Orphan 1 Der Engel von Inveraray
erschien Charlotte und warf ihm ihre Krücke zwischen die Beine. Er stolperte und fiel zu Boden. Flink wie ein Wiesel huschte Jamie ins Zimmer und streute eine Hand voll Mehl aus seinem Ranzen in Georges Augen. Der riesige Grobian schrie vor Zorn und stürzte sich auf den Jungen. Seine Augen funkelten wie glühende Kohlen unter einer Furcht erregenden weißen Maske.
„Jetzt bist du dran, du verfluchter kleiner ..."
Ihr schweres Nudelholz schwingend, kam Eunice ins Zimmer gelaufen, ließ es kraftvoll auf Georges mehlweißen Schädel niedersausen und bereitete seinen Drohungen und Flüchen ein jähes Ende.
Eine Mehlwolke schwebte in der Luft, als George vornüber kippte und bäuchlings auf dem Fußboden landete. Augenblicke später war Jack zur Stelle, drückte ihn mit dem Knie auf den Boden und fesselte ihn mit denselben Handschellen und Stricken an Händen und Füßen, die die Ganoven zuvor für Haydon verwendet hatten.
„So, nur noch einer, und wir können alle nach Hause gehen." Oliver rieb sich voller Vorfreude die schwieligen Hände. Offenbar machte ihm die ganze Angelegenheit höllischen Spaß.
Im anderen Zimmer umkreisten Grace und Simon Harry, der ihren Schwindel erregenden Angriff gewiss besser hätte abwehren können, wenn er nicht so betrunken gewesen wäre. Doreen stand mit ihrem Bügeleisen bereit, um es ihm im geeigneten Augenblick über den Schädel zu ziehen.
„Nimm das, gemeiner Schuft!" rief Simon und piekte Harry ab und zu mit dem Schürhaken aus Messing.
„Und das! Und das!" schrie Grace und malträtierte sein Hinterteil geschickt mit einer Kupferpfanne.
Bis zur Weißglut gereizt, stieß Harry ein zorniges Bellen aus und riss den Kindern die Folterwerkzeuge aus den Händen.
„Ich werde euch eine Lektion erteilen, die ihr nicht so schnell vergessen werdet, ihr verfluchten Strolche!" brüllte er und stürzte sich auf sie.
„Harry, schnell! Rette dein Kind!" Genevieve warf ihm ihr zerlumptes Bündel zu.
Mit einer Mischung aus Verblüffung und Entsetzen auf dem Gesicht, ließ Harry auf der Stelle den Schürhaken und die Kupferpfanne fallen, um das „Kind" aufzufangen.
„Ich hab es!" rief er triumphierend aus.
Verwirrung machte sich auf seinem Gesicht breit, als er auf die zerknüllten Tücher hinabschaute und ein praller, zehn Pfund schwerer Hafermehlsack zum Vorschein kam. „Was zum Teufel..."
Haydons Kinnhaken war so wuchtig, dass Harrys Zähne mit einem hässlichen Krachen aufeinander schlugen. Harry guckte ihn benommen an, den eingewickelten Mehlsack noch immer schützend in den Armen haltend. Als Haydon ihm einen zweiten Hieb versetzte, fiel Harry um wie ein gefällter Baumstamm.
„So, das wäre erledigt", sagte Oliver und nickte zufrieden. „Vor morgen früh werden diese Kerle nicht aufwachen."
„Vergesst nicht, eure Sachen mitzunehmen, Kinder", mahnte Doreen, während sie ihr treues Bügeleisen zurück in ihre Tasche steckte. „Es wäre töricht, eine einwandfreie Kupferpfanne liegen zu lassen."
„Wo ist die Katze?" fragte Charlotte und ließ den Blick durch das mit Abfall übersäte Zimmer schweifen.
Jamie zeigte zur Tür, wo das verängstigte kleine Geschöpf gerade verstohlen versuchte, dem Tumult zu entfliehen. „Dort sitzt sie."
„Komm zurück, Kätzchen!" rief Annabelle und eilte auf das Tier zu.
Die Katze miaute und verschwand im Korridor.
„Nein, Kätzchen, komm zurück!" Annabelle riss die Tür weit auf, um sie zu verfolgen.
Und lief Vincent dabei geradewegs in die Arme.
Als er Ewan bewusstlos im Flur hatte liegen sehen, war dem Earl of Bothwell sofort klar gewesen, dass etwas nicht nach Plan verlief. Also packte er Annabelle und drückte ihr die Pistole an die Schläfe in der nüchternen Annahme, er könne Haydon gegenüber ein Druckmittel vermutlich gut gebrauchen.
„Lassen Sie mich los!" kreischte das Mädchen und trat ihm mit dem Stiefelabsatz gegen das Schienbein.
„Sei still", zischte Vincent und zuckte vor Schmerz zusammen, „oder ich schieße dir ein Loch in deinen hübschen kleinen Kopf." Er drehte Annabelle den Arm auf den Rücken und zwang sie zu gehorchen. Sobald sie außer Gefecht gesetzt war, widmete er seine Aufmerksamkeit der verblüfften Schar vor ihm.
„Guten Abend, Haydon", sagte er gedehnt, während er Annabelle ins Zimmer zurückschob und die Tür hinter ihnen schloss. „Ich muss zugeben, dass ich nicht erwartet habe, Sie in Gesellschaft so vieler Gäste anzutreffen. Es wäre mir lieber gewesen, wir hätten diese
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