Orphan 1 Der Engel von Inveraray
sich mit einer mädchenhaften Geste eine graue Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Ewan", knurrte eine betrunkene Stimme aus dem Inneren der Wohnung, „was zum Teufel geht da draußen vor sich?"
„Los, Kätzchen", flüsterte Annabelle und wickelte die Katze auf ihrem Arm aus dem Schal, „lauf und fang eine schöne, fette Maus!" Sie warf die zappelnde Kreatur über die Schwelle und rannte ihr dann aus Leibeskräften kreischend nach. „Komm zurück, Kätzchen!"
Die anderen Kinder folgten ihr schreiend und johlend, während sie die völlig aufgeregte Katze jagten.
„Was zum Henker ist hier los?" fragte Harry, verblüfft über den unerwarteten Überfall. Er erhob sich vom Tisch, wo George und er zu Abend gegessen hatten, und guckte sie aus glasigen Augen an.
„Mein Kätzchen", jammerte Annabelle und führte die Kinder in einem wilden Reigen durch die heruntergekommene kleine Wohnung.
„Komm zurück, komm zurück!" riefen alle durcheinander und brachten die zu Tode erschrockene Katze dazu, noch kopfloser durch den Raum zu hetzen.
„Na hört mal, ihr habt hier nichts zu suchen!" Georges malträtiertes Gesicht verzog sich zu einer wütenden Grimasse, als Grace und Jamie begannen, unter dem Tisch herumzukriechen. „Verschwindet da, habe ich gesagt!"
Gehorsam vortäuschend, richteten sie sich auf und warfen dabei den Tisch um, wobei sich das aus fettigem Eintopf und lauwarmem Ale bestehende Abendessen über den Fußboden ergoss.
„Was bildet ihr euch ein, ihr kleinen Halunken?" schimpfte Eunice, als sie mit Oliver, Doreen und Genevieve im Schlepptau ins Zimmer stürzte. „Kommt sofort mit nach Hause, ihr verflixten kleinen ..."
„Sie ist unter deinem Rock!" schrie Simon. „Ich glaube, sie ist verrückt geworden!"
Eunice stieß einen spitzen Schrei aus und wirbelte mit fliegenden Unterröcken im Kreis herum, angeblich, um die Katze zu vertreiben. „Hilfe! Hilfe!" Sie schlang ihre fleischigen Arme fest um Georges Nacken und stützte sich auf ihn, während sie mühsam auf einen Stuhl kletterte. „Retten Sie mich!"
„Ich ... kriege ... keine Luft ... mehr", keuchte George. Obwohl er sich bemühte, gelang es ihm nicht, sich aus ihrem Würgegriff zu befreien.
„Nein, sie ist da drüben!" rief Oliver und zeigte auf eine Stelle hinter Harrys Rücken.
Harrys Augen weiteten sich vor Entsetzen, als die Kinder wie eine drohende Woge auf ihn zustürzten und ihn zu Fall brachten. „Runter von mir, ihr blöden Affen", fluchte er und versuchte, sich vor ihren strampelnden Armen und Beinen in Sicherheit zu bringen.
Während die beiden Männer von dem lärmenden Durcheinander abgelenkt waren, liefen Jack, Genevieve und Oliver zur Tür des kleinen Schlafzimmers im hinteren Teil der schäbigen Wohnung. Als Jack die Tür aufriss, entdeckte er Haydon, der - an Händen und Füßen an einen umgekippten Stuhl gefesselt - am Boden lag und einen blutigen Knebel im Mund hatte. Er versuchte offenbar, näher an einige Glasscherben zu gelangen, die in einer Petroleumpfütze lagen - die Überreste einer Lampe, die er von einem Tisch hatte stoßen können. Ungläubiges Staunen flackerte in seinen Augen auf, als das zerlumpte Trio auf ihn zueilte.
„Hier haben Sie sich also versteckt." Oliver zog zwei Metalldrähte aus seiner Tasche und kniete nieder, um das Schloss der Handschellen zu öffnen, mit denen Haydons Handgelenke noch immer hinter dem Rücken gefesselt waren.
„Sie haben schon schlimmer ausgesehen", versicherte Jack, zog einen scharfen Dolch aus seinem Stiefel und durchschnitt damit Haydons Fesseln.
Genevieve unterdrückte ein Schluchzen, als sie hastig den blutigen Knebel aus Haydons Mund entfernte. Er ist am
Leben, dachte sie erleichtert und kämpfte mit den Tränen. Blutig geprügelt, doch am Leben. Nun mussten sie ihn nur noch nach Hause bringen.
„Um Himmels willen, Genevieve", fluchte Haydon rau und schüttelte die zerschnittenen Fesseln ab. „Was zum Teufel machst du hier?"
„Nun, mein Freund, sie hatte sich in den Kopf gesetzt, Sie hier herauszuholen, und wir konnten sie unmöglich allein losziehen lassen", erklärte Oliver vergnügt. „Wenn Sie nichts dagegen haben, kümmern wir uns jetzt um Harry und George, damit wir alle ..."
„Ich bring euch um!" brüllte George und versperrte mit seinem massigen Leib die Schlafzimmertür. Hasserfüllt blickte er um sich und zog dann einen glänzenden Dolch aus dem Gürtel. „Ich bring euch alle um!" Er hob das Messer und stürzte sich auf sie.
Plötzlich
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