Orphan 1 Der Engel von Inveraray
„Jetzt fehlt nur noch eins, um das Ganze komplett zu machen." Er griff in seine Manteltasche und zog eine kleine karmesinrote Schatulle daraus hervor. „Hier!"
Genevieve schaute ihn verwundert an. Sein Gesichtsausdruck war unergründlich.
Zögernd nahm sie die Schatulle an, strich mit den Fingern über die samtige Oberfläche und genoss das seltene Gefühl gespannter Vorfreude. Nach einer Weile öffnete sie langsam den Deckel.
Auf einem Satinkissen lag ein goldener Ring mit einem funkelnden Rubin in der Mitte.
„Sie verdienen etwas viel Großartigeres", sagte Haydon mit leicht angespannter Stimme, „doch in der kurzen Zeit und mit meinen recht beschränkten Mitteln konnte ich leider nichts Besseres finden. Ich dachte, es sei an der Zeit, dass Mrs. Maxwell Blake einen Ehering bekommt."
Genevieve starrte schweigend auf den glänzenden Ring.
„Er ist wunderschön", flüsterte sie.
„Hier." Haydon nahm das Schmuckstück aus der Schatulle und griff nach Genevieves Hand. Ihre Haut fühlte sich kühl und samtig an, und als er sich näher zu ihr beugte, stieg ihm der zarte Duft von Orangenblüten in die Nase. Er schob den Ring über den Mittelfinger ihrer linken Hand. „Ich fürchte, er ist ein wenig groß", bemerkte er entschuldigend. „Wir werden ihn anpassen lassen müssen, sobald wir heimkommen."
Das Wort „heimkommen" kam ihm einfach über die Lippen. Noch während er es aussprach, wusste er, dass es falsch war, doch er berichtigte sich nicht - aus Furcht, sie beide in ein Gespräch hineinzuziehen, bei dem sie sich der Unmöglichkeit ihrer Lage würden stellen müssen. Ihm war sehr wohl klar, dass er nicht bis in alle Ewigkeit vorgeben konnte, Maxwell Blake zu sein. Er hatte ein Leben zurückzugewinnen, wie leer und bedeutungslos es auch sein mochte. Außerdem war er ein entflohener Mörder, und seine bloße Anwesenheit stellte eine ständige Bedrohung für Genevieve und ihre Familie dar. Er schloss die Augen und verdrängte seine düsteren Gedanken. Heute Abend würden sie eine Kunstausstellung besuchen, in der die Elite der Glasgower Kunstwelt das Werk des Künstlers Georges Boulonnais begutachten und ihr Urteil darüber fällen würde.
„Kommen Sie, Genevieve", forderte er sie auf, nahm ihren Abendmantel und drapierte ihn über ihre schlanken, nackten Schultern. „Unten wartet eine Kutsche, um Sie zu Ihrer ersten Ausstellung zu fahren." Er nahm Hut und Mantel, öffnete die Tür und bot Genevieve dann galant den Arm.
Morgen würden sie Zeit genug haben, der harten Wirklichkeit ins Auge zu blicken.
„Mr. Blake! Hier!" Alfred Lytton fuchtelte mit seiner knochigen Hand in der Luft herum, während er sich mühsam einen Weg durch die Menschenmenge bahnte.
„Mr. Lytton", sagte Haydon, als es dem bebrillten Kunsthändler endlich gelungen war, sich durch die Besuchermassen zu drängen. „Ihre Galerie erfreut sich recht großer Beliebtheit, wie es scheint. Meine Liebe, du kennst Mr. Lytton, nicht wahr?"
fuhr er an Genevieve gerichtet fort. „Wenn ich mich recht entsinne, erwähntest du, dein Vater habe vor Jahren einige Bilder bei ihm gekauft."
„Ja, gewiss", antwortete Genevieve, überwältigt von den vielen Menschen, die ihre Bilder betrachteten. Die Gemälde waren alle mit aufwändig geschnitzten Goldrahmen versehen worden, was sie viel bedeutender wirken ließ als zu der Zeit, als sie noch verstreut in ihrem Keller herumgestanden hatten. Sie wusste nicht, ob die Besucher der Ausstellung ihre Werke schätzten, hassten oder schlichte Gleichgültigkeit empfanden. „Wie geht es Ihnen, Mr. Lytton?"
„Ein Tollhaus!" stieß der Kunsthändler aufgeregt hervor und ließ den Blick durch die zum Bersten volle Galerie schweifen. „Es ist das reinste Tollhaus! Meine Teilhaber haben Einladungen an unsere Stammkundschaft verschickt, doch da der Termin so kurzfristig angesetzt wurde, haben wir zusätzlich eine kleine Anzeige im Herald aufgegeben, um noch den ein oder anderen Interessenten anzulocken. Nun, zufällig ist Mr. Stanley Chisholm, der berühmte Kunstkritiker, auf die Anzeige aufmerksam geworden und hat gestern vorbeigeschaut, während wir noch mit den Vorbereitungen beschäftigt waren. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass er recht begeistert von den Gemälden war. So begeistert, dass er einen Artikel für die heutige Ausgabe des Herald schrieb, in dem er Monsieur Boulonnais' Werk als ausgezeichnet preist und hinzufügt, dass niemand, der Gemälde von ungewöhnlicher Sensibilität sehen
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