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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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stieß ein einzelner Vogel herab, ein Mal, um dann in den schützenden Schatten abzutauchen. Joe wandte sich ab.
    Der Pfad führte ihn zwischen den niedrigen Häusern hindurch. Der Himmel war eine helle, wolkenlose Weite, seine Farbe das überraschende Blau eines fernen Meeres. Wie ein Mann, der ständig an einer verkrusteten Wunde herumfummelte, schälte er unterwegs Schicht um Schicht von sich selbst ab. Dort an dem Bergabhang fühlte er sich sehr allein. Was ihn zusammenhielt, war kaum mehr als ein Name, ein Beruf. Es gab einen Mann namens Joe, und er war Detektiv. Was ihn weitermachen ließ, ihn in die Stränge dieser Identität eingebunden hielt, war eine Frage. Dort oben fühlte er sich dem Himmel näher denn je. Dort oben in der sauberen und geheiligten Luft schwebten die Geister der Toten. Dort oben war der Himmel.
    Das Haus lag am Ende einer Straße. Die schlammfarbenen Ziegelsteine hatten den Hauch eines weißen Anstrichs erhalten, der an manchen Stellen schon abblätterte. Eine niedrige Mauer umgab den Hof des Hauses, und ein schmiedeeisernes Tor war, einem Gedankenstrich gleich, in die Mauer eingesetzt worden. Aus dem Schornstein stieg kein Rauch. Irgendwo in der Nähe zwitscherte unsichtbar ein einsamer Vogel. Joe versuchte das Tor zu öffnen, es war unverschlossen. Als er es aufschob, quietschte es.
    Rund um das Haus wuchs büschelweise Gras, getrennt durch Flecken trockener Erde. Auf der linken Seite tropfte ein Hahn, sehr langsam, darunter wuchsen wie Türmchen zwei ungepflegte Minzpflanzen. An der Wand lehnte ein Fahrrad mit platten Reifen.
    Schlaf lag wie ein Zauber über dem Haus.
    Es gab eine leere Veranda. Dahinter kam die Haustür. Sie war aus unlackiertem Holz. Joe ging auf das Haus zu, und mit jedem Schritt schien sich das Land um ihn herum auszudehnen und gleichzeitig zusammenzuziehen, so als wäre er auf ein merkwürdiges Gebiet in Zeit und Raum, eine nackte Singularität, gestoßen. Hinter den Augen empfand er einen Schmerz, der nicht körperlich war. Es war, als würden alle Dinge, aus denen er sich zusammensetzte, alle Fäden seines Seins jetzt entwirrt.
    Einstweilen hielt die Frage ihn gefangen. Als er die Veranda erreichte, stand er mucksmäuschenstill da, lauschte. Es war nichts zu hören. Selbst der einsame Vogel hatte aufgehört zu singen. Das Haus war still, keine widerhallende, sondern eine gedämpfte Stille, die Stille vergessener Dinge, die Ruhe verlassener Leben. Ein Teddybär, dem die Augen fehlten, saß zusammengesunken mit dem Rücken an der Wand, sein Fell ein Flickwerk aus Farbe und Schimmel. Joe klopfte an die Tür. Niemand antwortete.
    Er drückte gegen die Tür, und sie ging auf.

Zeit
    Durchs Fenster fiel sanftes Licht auf den abgetretenen Afghanen. In dem Raum war es kühler als draußen. Ein leichter Wind säuselte ums Haus. An der Decke hing ein Ventilator, reglos. Ein vertrauter Geruch lag in der Luft, obwohl man ihn nicht auf Anhieb bemerkte. Es gab zwei große, bequem aussehende Sessel, bei denen die Polsterung durch Löcher im Stoff herausquoll. Dann einen niedrigen Couchtisch, das Holz lackiert, darauf ein Aschenbecher mit drei Zigarettenstummeln und sich überschneidende Ringe, wo heiße Gläser abgestellt und wieder weggenommen worden waren. Am anderen Ende führte ein Durchgang in eine Küche. Die linke Wand wurde von einem hohen Bücherregal verdeckt. An der rechten Wand, gegenüber dem Fenster, stand ein großer Schreibtisch. Darauf lagen Bücher verstreut, halb offen. Außerdem Umschläge, Papiere, Stifte, Münzen, Muscheln, Gummibänder, ein zerbrochener Tacker, kleine runde Steine, zwei Federn, ein Bleistiftspitzer, ein geschlossenes Tintenfass: eine fantastische Schatzkarte mit Bergen und Tälern, Klüften und Quellen. In der Mitte des Schreibtischs stand, wie ein Berg aufragend, eine Schreibmaschine. Ein Bogen Papier war eingezogen. Der Stuhl war vom Schreibtisch zurückgeschoben worden, als wäre derjenige, der darauf gesessen hatte, für einen Moment weggegangen und käme bald zurück, um sich wieder zu setzen.
    Joe stand in der Mitte des Raums und holte tief Luft. Der Geruch, nachklingend, süß, zu süß, vertraut. Er fing an, Dinge zu berühren. Die Sessel, den Couchtisch, das Bücherregal, die Wände. Sie fühlten sich fest und real, seltsam beruhigend an. Nachdem er mit dem Finger über ein Brett des Bücherregals gefahren war, zog er ihn staubbedeckt zurück. Die Bücher sahen aus, als stünden sie schon seit Ewigkeiten da, reglos. Sie waren in

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