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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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Englisch, mit dem Finger auf die Schrift zeigend, und der Verkäufer sah ihn mit einem leicht befremdeten, überall Touristen vorbehaltenen Blick an und sagte: »Paschtu.«
    Er trat hinaus in die sengende Sonne und zündete sich eine Zigarette an.
    Mit einem Mal traf ihn das ungeheure Ausmaß dessen, was passiert war, und er sackte an der staubigen braunen Wand zusammen, die Hand an dem warmen Material, in dessen Existenz er Halt und Festigkeit fand. Er wusste nicht genau, was passiert war. Es kam ihm alles wie ein schlechter Traum vor. In einem Buch, das er früher einmal gemocht hatte, fiel ein Mädchen durch ein Loch in eine unterirdische Welt, die sich allmählich immer mehr in einen Albtraum verwandelte. Doch als das Mädchen es nicht mehr aushielt, entdeckte es, just als es von einem Spiel empfindungsfähiger Karten angegriffen wurde, die Unwirklichkeit seiner Situation und erwachte. Es war alles nur ein Traum gewesen.
    Joe wünschte, es wäre alles nur ein Traum gewesen. Wenn man an Flugzeuge dachte, die in unglaublich hohe Türme krachten, an Bomben, die Augen und Zähne und Finger ausrissen, an einen stummen, geheimen Krieg, den er nicht verstand, dann dachte man an Fiktion, an einen billigen Taschenbuchthriller mit reißerischem Cover. An solchen Dingen war nichts Reales – konnte nichts Reales sein.
    Während er dort stand, fuhren Autos auf der Straße vorbei. Er sah kompakte Skodas und Ladas und ein paar glänzende schwarze deutsche Mercedes-Limousinen und einen Volvo mit Diplomatenkennzeichen. Es gab auch große Chevys, Pontiacs, Chevrolets und Cadillacs; Vereinte Autonationen. In der Schule auf der anderen Straßenseite spielten die Kinder. Auf einem Schild über dem Gebäude stand in Englisch, in kyrillischer Schrift und in derselben romantischen Kursivschrift wie auf den Zigaretten, dass es sich hier um die Mohammed-Sahir-Schah-Grundschule handelte und dass sie von Ahmad Schah Khan 1982, im Jahr seiner Amtseinführung, eröffnet worden war.
    Es war heiß. Oben flog langsam ein Flugzeug vorbei, das den Himmel mit einem Kondensstreifen zierte und nach und nach über den Dächern sank. Die Stadt besaß einen trockenen, nicht unangenehmen Geruch. Joe zertrat die Überreste seiner Zigarette und ging weiter. Er konnte das Ende seiner Reise fühlen, irgendwo in der Nähe. Er folgte jetzt Instinkten, so wie ein Zugvogel wohl dem magnetischen Norden folgte, die Welt unter ihm eine Landkarte ohne eingezeichnete Grenzen. Er kam zu einem Markt am Fluss. Dort lagen schwere, wunderbar gewebte Teppiche aus. Auf einem Holzregal standen kleine Glastassen, daneben ein verbeulter Samowar, und Joe konnte den darin ziehenden Tee riechen. Durch einen türlosen Eingang konnte er flüchtig zwei alte Männer sehen, die an Teetassen nippten und gleichzeitig Bonbons lutschten. Er konnte Zigaretten riechen und Pfeifentabak, und während er zwischen den Buden mit Auberginen und Tomaten, Trauben und Kichererbsen, Rosinen und Nüssen und Säcken voll weißem Reis hindurchging, konnte er auch den schweren, süßen Geruch des Opiums ausmachen, das hier und da auf niedrigen Tischen lag, als dunkle Kügelchen und als Stangen, auf denen in Englisch und Paschtu der Stempel prangte: Product of the Kingdom of Afghanistan .
    Weiter unten standen mit Büchern bedeckte Tische. Er blieb stehen und ließ seine Finger über die Cover streichen; sie fühlten sich warm an, wie Haut. Die Buchtitel stellten eine Melange aus Sprachen und Alphabeten, Französisch und Englisch, Arabisch und Niederländisch, Urdu und Deutsch und Paschtu und Chinesisch dar. Er nahm eins in die Hand, blätterte es durch. Ein Reiseführer zu den Tora-Bora-Höhlen . Bücher, dachte er, waren so etwas wie Zugvögel. Müde von ihren Reisen, blieben sie eine Zeitlang hier, ehe sie wieder davonflogen, ehe sie umzogen, sich für eine Weile in einem anderen Nest einrichteten. Sie erschienen ihm wie ein Schwarm, der sich auf diesen Tischen niedergelassen hatte, Blätter wie Flügel flatternd, und der hier im Schatten rastete und die Ruhepause genoss, wissend, dass es bald Zeit sein würde, sich wieder auf den Weg zu machen. In der Nähe der Bücher befand sich ein Drehständer mit Stapeln von Postkarten. Zwei Touristen, die blasse Haut in deutlichem Gegensatz zu den gedeckten Erdfarben der Gebäude und Menschen hier, durchstöberten die Karten. Der Mann hatte einen Fotoapparat um den Hals hängen. Die Frau war hübsch in ihrem Sommerkleid. Er sah die beiden an und spürte

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