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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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plötzlich, wie Neid ihm einen heftigen Stich versetzte. Es kam ihm vor, als wäre er auch einmal so gewesen, irgendwie vollständig, und er beobachtete sie, während sie drei Postkarten aussuchten und bezahlten und davongingen, Hand in Hand: als wären sie selbst eine Postkarte.

Verblassen
    Auf dem Hügel oberhalb des Flusses standen Häuser, und dorthin begab er sich. Die Sonne knallte vom Himmel. Um seine Füße herum jagten Staubwirbel einander. Die Berge in der Ferne sahen nackt und abweisend aus, ohne eine Spur von Vegetation. Als er hoch oben auf dem Hügel war, drehte er sich um und blickte auf die Stadt hinunter.
    Im Sonnenlicht wirkte Kabul schläfrig. Ein Dunstschleier lag auf den lehmfarbenen Gebäuden und wurde von den träge dahinkriechenden Autos reflektiert. Ganz aus der Ferne konnte er Fetzen von Musik, Gesprächen, Kinderspielen hören. Ein weiteres Flugzeug kam über die Berge, zu hören, ehe es zu sehen war, ein großer Metallvogel, der seinen Kurs änderte und, während seine Flügel das Sonnenlicht zurückwarfen, in einen langsamen Sinkflug überging. Unten gab es einen See, den sich schlängelnden Fluss, breite Alleen und enge, gewundene Gassen, eine alte Stadt, überlagert von einer neuen. Jahrhundertelang schien sie schon dort zu liegen, sich in der Sonne wärmend, an einem endlosen Nachmittag geduldig wartend.
    Er sah zu, wie das Flugzeug an Höhe verlor. Dabei wurde es immer lauter, und in den Lärm seiner Triebwerke mischten sich rufende Stimmen. Joe schüttelte den Kopf, nein, nein, doch die Stimmen hörten nicht auf, sondern verstärkten sich im Surren des Flugzeugs.
    Er sah zu, während die Stimmen um ihn herum sich in eine Raserei hineinsteigerten und die Stadt unter ihm sich zu verändern begann.
    Es war ein Verblassen. Vor seinen Augen verschwanden Teile der Stadt, wurden verdunkelt, andere verschoben, Gebäude wurden größer, kleiner, die Stadt füllte sich mit Löchern, die vorher nicht da gewesen waren.
    Zum Brummen dieses Flugzeugs kam das von anderen hinzu: ein wachsender Ansturm von Maschinen über der Stadt. Ihre Schatten fielen auf den trockenen Boden darunter, und aus ihren glitzernden Bäuchen fielen ihre Eier, dunkles Metall, matt, durch die Luft pfeifend.
    Beim Auftreffen auf die Gebäude wurden sie geboren: eine Vielzahl von Schmetterlingspuppen, die aus ihren Kokons schlüpften. Sie breiteten Flügel aus hellen Flammen über der Stadt aus, verschlangen Ziegelsteine und Fleisch und Metall. Er sah explodierende Autos, Türen, Sitze und Passagiere, die herausgerissen und in die Luft geworfen wurden. Er sah dachlose Gebäude und türlose Wohnhäuser, ein kopfloses Kind, mit einem Fußball, den es immer noch unter einem leblosen Arm hielt. Die Flugzeuge waren dunkle Wolken im Himmel über Kabul. Sie waren in Formation fliegende Zugvögel, die beinah überheblich ihre Ladungen abwarfen, so als wäre die Stadt dort unten, dieser unbedeutende, sich leerende Ort, der sich am Fuß der Berge zusammenkauerte, kaum der Beachtung wert.
    Vor seinen Augen lag die Stadt wie ein Schachbrett aus Helligkeit und Dunkel, grelles Licht glitt über schwarze Quadrate, schob sich weiter, veränderte sich, ließ die ausgebrannte Karosserie eines Autos hinter sich, einen Krater, wo vorher ein Haus gestanden hatte, eine hingefallene Puppe, irgendwo auf der Straße ein Fenster, das mit seinen klappernden Holzläden aufrecht im Staub stand.
    Er hörte Gewehrschüsse. Raketen sausten pfeifend in den Himmel. Er beobachtete, wie die Spuren von Leuchtspurgeschossen einander jagten, sah eine zweite Sonne über Kabul aufgehen, als ein sandfarbener Helikopter in hellen und unerwartet schönen Flammen aufging. Er hörte Schreien und Fluchen, und ein Baby, das endlos wimmerte, bis es plötzlich zum Verstummen gebracht wurde, als hätte jemand die Nadel abrupt von einer Schallplatte weggerissen. Er roch Rauch und Urin und verkohltes Fleisch und beißende chemische Gerüche, die er nicht benennen konnte. Unten verschwand die Stadt und tauchte wieder auf, eingehüllt in Rauch, der sich hin und wieder verzog, um ihm flüchtige Blicke auf eine andere Welt jenseits davon zu gewähren. Er wusste nicht, wie lange er dort, hoch über Kabul, stand und hinuntersah.

Stränge
    Er schüttelte den Kopf, um ihn freizubekommen. Das Brummen des einzelnen Flugzeugs war längst verhallt, und es war still. Die Stadt unter ihm schlief in der Sonne. Kein Geräusch war zu hören. Aus Schornsteinen stieg Holzrauch, und über ihm

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