Oscar
ich spürte, dass er versuchte, etwas zu sagen. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte ihm, ich sei gekommen, um sein Bein zu untersuchen.
Beide Beine waren durch Ödeme angeschwollen, weil Saul schon seit zwanzig Jahren mit chronischer Herzinsuffizienz kämpfte. Allerdings sah das rechte Bein röter aus, und als ich es berührte, fühlte es sich deutlich wärmer an als das linke. Offenbar waren Marys Sorgen gerechtfertigt.
»Saul, mein Freund, es tut mir leid, aber es sieht ganz so aus, als müssten Sie wieder Antibiotika nehmen.« Das musste ich auch seiner Tochter mitteilen. Ich nahm mir vor, sie später anzurufen.
Ich kehrte zum Stationszimmer zurück, wo Maya immer noch damit beschäftigt war, sich das Fell zu reinigen. Erschreckt durch mein Auftauchen, sprang sie von der Arbeitsplatte herunter, wobei sie mir einen ihrer »Hier-ist-nicht-genug-Platz-für-uns beide«-Blicke zuwarf.
Als ich meine Notiz niedergeschrieben hatte, blieb ich am Tisch sitzen, um auf Marys Rückkehr zu warten. Mary übt ihren Beruf schon sehr lange aus. Als sie in den 1970 er Jahren auf die High School ging, hatte sie einen Job als Pflegehelferin. Auf der Krankenpflegeschule entdeckte sie dann, dass sie gern mit alten Menschen umging. Sie ist nicht nur eine der engagiertesten Altenpflegerinnen, die ich kenne, sondern hat in ihrem Beruf eine besondere Intuition. Stets scheint sie zu wissen, wer gerade am meisten Aufmerksamkeit benötigt.
»Hallo, tut mir leid, dass Sie warten mussten.« Marys angenehme Stimme, der man ihre Herkunft aus Neuengland deutlich anhörte, sorgte dafür, dass ich meine Abhängigkeit nicht zu sehr bedauerte. Falls sie sich vorher tatsächlich geärgert hatte, so war das nun bereits vergeben und vergessen.
»David, haben Sie ein paar Minuten Zeit?«, fuhr sie fort. »Ich möchte Ihnen nämlich etwas in Zimmer 310 zeigen.«
Während wir den Flur entlanggingen, erzählte mir Mary ein wenig von Lilia Davis, die von einer Kollegin betreut wurde. »Sie ist etwa achtzig und seit eineinhalb Jahren hier auf der Station. Vor etwa drei Monaten hat sie plötzlich stark an Gewicht verloren. Eines Morgens blutete sie aus dem Darm. Drüben in der Klinik hat man dann Dickdarmkrebs diagnostiziert, der sich bereits überall ausgebreitet hatte. Angesichts ihrer schweren Demenz haben die Angehörigen sich gegen eine Behandlung entschieden und Lilia zur Hospizbetreuung wieder hierhergeschickt.«
Eine vernünftige Entscheidung, dachte ich bei mir.
Als wir ins Zimmer kamen, lag Mrs.Davis mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Sie atmete nur flach. In ihrem linken Arm steckte der Infusionsschlauch einer Morphinpumpe. Auf der anderen Seite des Raums stand ein leeres Behelfsbett mit zurückgeschlagenem Laken. Dort hatte offenbar jemand vor kurzer Zeit geschlafen.
»Die Tochter von Mrs.Davis«, erklärte Mary, bevor ich eine Frage stellen konnte. »Ich habe sie für ein paar Stunden heimgeschickt, damit sie sich duschen und umziehen kann. Ich glaube, vorher war sie sechsunddreißig Stunden lang pausenlos da.«
»Also, was wollten Sie mir zeigen?«, fragte ich.
Mary deutete auf das untere Ende des Betts. »Schauen Sie mal!«
Als ich näher trat, hob sich der Kopf eines schwarz-weiß gescheckten Katers vom Laken. Durch die Bewegung bimmelte leise das Glöckchen an seinem Halsband. Er stellte die Ohren auf und musterte mich mit einem fragenden Blick. Ohne weiter auf ihn zu achten, stellte ich mich neben die Patientin. Der Kater legte den Kopf wieder auf die Vorderpfoten und schnurrte leise, während er sich ans rechte Bein von Mrs.Davis schmiegte. Ich betrachtete ihr Gesicht und stellte fest, dass sie eindeutig schmerzfrei war.
»Sie sieht ganz gut aus«, sagte ich. »Soll ich ihr etwas verschreiben?«
»Es ist nicht die Patientin, David. Der geht es den Umständen entsprechend gut. Es ist der Kater.«
»Der
Kater?
Sie haben mich hierhergeholt, damit ich mir einen Kater anschaue?«
»Das ist Oscar«, sagte sie, als würde sie mir eine bedeutende Persönlichkeit vorstellen.
»Ja, ich weiß«, sagte ich. Allmählich teilte ich Mayas schlechte Laune. »Er ist wohl auf ein Stündchen zu Besuch gekommen.«
»Tja, genau das ist eben auffällig. Eigentlich kommt Oscar nicht gerne zu Besuch. Wie oft haben Sie ihn schon mal bei irgendeinem Patienten gesehen? Normalerweise versteckt er sich irgendwo.«
Das stimmte; ich hatte Oscar bisher nur ein paar Mal in einem Zimmer gesehen, obwohl er inzwischen schon ein ganzes Jahr
Weitere Kostenlose Bücher