Oscar
Schuldgefühlen, an der eigenen Angst vor dem Tod oder am Kummer darüber, den langsamen geistigen Abbau zu beobachten, den die Erkrankung mit sich bringt. Anders gesagt, diese Menschen haben vielleicht das Gefühl, selbst schwächer zu werden.
Auf Kathy, die Tochter von Mrs.Sanders, traf das keineswegs zu. Trotz des Zustands ihrer Mutter legte sie immer große Zuversicht an den Tag und nahm jeden Schritt rückwärts mit einer Haltung auf, die uns allen Mut machte. Sie tröstete sich mit allerhand erfreulichen Ereignissen, die sie als »kleine Siege« bezeichnete.
Ich erinnerte mich daran, wie ich vor kurzem nachmittags im Rosengarten des Pflegeheims auf Kathy und ihre Mutter gestoßen war. Es war ein besonders windiger Oktobertag, und ich wunderte mich, was sie da draußen taten. In ihre Jacken gehüllt, saßen sie auf einer Bank, die leeren Tabletts von ihrem Mittagessen neben sich.
»Frieren Sie nicht?«, fragte ich Kathy. »Es ist doch ganz schön kalt!«
»Ich nenne es lieber frisch«, erwiderte sie scherzhaft. »Wissen Sie, die nächsten drei bis vier Monate wird meine Mutter im Haus eingesperrt sein. Was macht es da aus, wenn es mal ein wenig kalt ist? Und schauen Sie mal, wie schön die Blätter zu dieser Jahreszeit sind!«
Kathy warf einen Blick auf ihre Mutter und legte ihr den Arm um die Schulter.
»Sind sie nicht wunderschön, Mom?«, fragte sie und deutete auf die letzten roten und goldenen Blätter an einem nahen Baum. Ihre Mutter sagte nichts, doch auf ihrem Gesicht erschien der Anflug eines Lächelns.
»Kleine Siege, Dr.Dosa«, erinnerte Kathy mich, als ich mich rasch ins Warme flüchtete.
Diese Worte kamen mir wieder in den Sinn, als ich nun an der Stelle vorbeikam, wo die beiden damals gesessen hatten. Womöglich war Mrs.Sanders an jenem Oktobertag das letzte Mal im Freien gewesen.
Der scharfe Winterwind trieb mich rasch durch den frostigen Garten in den Speisesaal des Pflegeheims. Es war bald Mittagszeit, und eine Helferin war damit beschäftigt, die Tische zu decken. Das tat sie sorgsam und polierte dabei das Besteck, als würde sie in einem der besten Restaurants der Stadt arbeiten. Diese Aufmerksamkeit fürs Detail ist wohl einer der Gründe, weshalb unser Heim so einzigartig ist. Praktisch jede Entscheidung ist hier von Achtung vor den Patienten getragen, und das ist selbst an den einfachsten Gesten sichtbar.
In einer Ecke des Speisesaals saß Ida Poirier in ihrem Rollstuhl und wartete geduldig auf den Beginn des Essens. Dabei beobachtete sie die Helferin bei ihrer Arbeit. Als ich hereinkam, hob Ida den Blick und lächelte.
Ida wohnte schon seit vielen Jahren bei uns. Im Pflegeheim leben musste sie wegen ihrer rheumatoiden Arthritis. Durch die jahrelange Gelenkentzündung waren ihre Beine und Hände verdreht und knorrig, doch ihre geistigen Fähigkeiten waren so scharf wie eh und je. Trotz ihres Leidens hatte Ida einen trockenen Humor beibehalten, den sie sich angeeignet hatte, weil sie schon so lange mit ihrer chronischen Erkrankung kämpfte. Chronisch kranke Personen haben offenbar zwei Möglichkeiten: Entweder sie lernen, mit ihrem Zustand zu leben und gelegentlich darüber zu lachen, oder sie erliegen ihrem Leiden.
Ich bückte mich zu ihr, um sie zu umarmen.
»Was gibt es heute zu Mittag, Ida?«
»Den üblichen Fraß, Dr.Dosa. Ich weiß gar nicht, welchen Tag wir heute haben – ist es Montag oder Dienstag?«
»Es ist Donnerstag, Ida.«
»Ich glaube, dann gibt’s Fleischpastete. Ist allerdings egal, es schmeckt doch alles gleich.«
Ich grinste, während ich mich zu ihr setzte.
»Die Leute in der Küche tun ihr Bestes, Ida. Leider ist ihr Budget zu schmal, um Filetsteaks zu servieren.«
»Mag sein, Dr.Dosa, aber könnten wir nicht wenigstens mal einen Hummer bekommen? Schließlich sind wir doch in Rhode Island, oder etwa nicht?«
»Ich werde mit dem Küchenchef sprechen.«
»Wer’s glaubt!« Sie schüttelte mit gespielter Empörung den Kopf und sah mich an, um meine Reaktion einzuschätzen. So ein kleines Geplänkel mit Ida baute mich immer auf, was ihr durchaus bewusst war.
»Sagen Sie, Dr.Dosa, gehen Sie gerade zu der Patientin, die gestorben ist?«
»Wieso fragen Sie, Ida?«
»Ich habe gehört, der Kater war bei ihr, als es so weit war.«
Ich machte eine Pause, bevor ich antwortete. »Woher wissen Sie das denn?«
»Einige der Schwestern hier unten haben sich über Oscar und das, was er tut, unterhalten. Übrigens, ich liebe Katzen! Ich glaube, ich hatte mein
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