Oscar
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Tiere sind so angenehme Freunde –
sie stellen keine Fragen
und äußern keinerlei Kritik.
George Elliot
1
W enn man seinen Beruf liebt, kann einem an guten Tagen der Arbeitsplatz regelrecht schön vorkommen – egal, wie er in den Augen der übrigen Welt erscheinen mag. Ein Unternehmer in der Ölbranche betrachtet eine öde, staubige Ebene und sieht das Potenzial für ein unerschlossenes Erdöllager. Ein Feuerwehrmann sieht ein brennendes Gebäude und marschiert mit steigendem Adrenalinspiegel hinein, um zu helfen. Ein Fernfahrer liebt die weiten Straßen und die Zeit, in der er mit seinen Gedanken allein ist, die Reise und das Ziel.
Ich bin Geriater und arbeite auf der zweiten Etage des Steere House Nursing and Rehabilitation Center, eines Pflegeheims, das an das Rhode Island Hospital im Zentrum von Providence angeschlossen ist. Manche Leute sagen mir, meine Arbeit erschiene ihnen deprimierend, was mich immer ein wenig verwundert. Wenn ich meine Patienten und ihre Angehörigen betrachte, habe ich einen beachtlichen Einblick in ein gut gelebtes Leben, eine tiefe Bindung und dauerhafte Zuneigung, und das möchte ich für nichts auf der Welt eintauschen. Freilich muss ich mich manchmal um Menschen kümmern, die in einem schlimmen Zustand sind, aber ich bin auch dabei, wenn sie ihre besten Augenblicke haben.
Meine Eltern, beide Mediziner, haben mich für verrückt gehalten, als ich mich für die Geriatrie entschied. In meiner Familie wurde man normalerweise Kinderarzt – wie meine Mutter, mein Onkel und mein Großvater. Ich glaube, sie hatten immer das Gefühl, ich hätte das falsche Ende der Lebensspanne als Fachgebiet gewählt. »Sind Kinder denn nicht viel netter?«, meinte meine Mutter oft.
Zugegeben, ich habe durchaus darüber nachgedacht, Kinderarzt zu werden. Ich liebe Kinder und Babys, und ich habe selbst zwei Sprösslinge zu Hause. Der Unterschied besteht aus meiner Sicht in der Geschichte, die man kennenlernt. Kinder sind wie eine leere Leinwand, ein Porträt, das erst gezeichnet werden muss. Wenn wir sie betrachten, während ihr Leben gerade beginnt, denken wir an einen Neuanfang und grenzenlose Möglichkeiten.
Meine älteren Patienten hingegen sind wie vollendete Gemälde, und was für Geschichten sie zu erzählen haben! Wenn ich sie an einem richtig guten Tag betrachte, sehe ich bis zurück in ihre Kindheit. Ich denke an ihre Eltern, die nun schon lange tot sind, an die Orte, an denen sie gewesen sind, und an alles, was sie gesehen haben. Für mich ist das wie ein Blick durchs vordere Ende eines Teleskops, der mich an den Anfang zurückführt.
Deshalb erscheint mir mein Arbeitsplatz, das Steere House, als ein schöner Ort, zumal es sich um ein vergleichsweise angenehmes Pflegeheim handelt. An sonnigen Tagen flutet Licht durch die großen, hohen Fenster, und es spielt immer Musik, so dass man sich fast wie zu Hause vorkommt.
Und dann gibt es dort Oscar. Gern würde ich behaupten, dass ich der Erste war, der seine besonderen Fähigkeiten erkannte – aber leider war ich es nicht. Dankenswerterweise gab es andere, die scharfsinniger waren.
An einem Sommermorgen vor einigen Jahren schien die Station ganz leer zu sein – bis auf ein Augenpaar, das mich vom Tisch des Stationszimmers aus anfunkelte. Wie ein Wächter, der sorgfältig jeden Besucher unter die Lupe nimmt, musterten mich diese Augen, um zu bestimmen, ob ich womöglich eine Gefahr darstellte.
»Hallo, Maya! Na, wie geht’s?«
Die hübsche weiße Katze machte keine Anstalten, mich zu begrüßen. Sie widmete sich hingebungsvoll der Tätigkeit, ihre Vorderpfoten zu lecken.
»Wo sind sie denn alle, Maya?«
Es war merkwürdig ruhig auf der Etage. Die mit Parkett ausgelegten Flure waren leer; einziges Lebenszeichen waren ein paar Rollatoren, die scheinbar zufällig vor manchen Zimmern standen. Ohne ihre Benutzer sahen die Gehwagen merkwürdig unhandlich aus, wie etwas, das ein erfindungsreiches Kind mit seinem Metallbaukasten gebastelt und nach dem Spielen stehen gelassen hatte. Am einen Ende des Ostflurs fiel Morgenlicht durch die hohen Fenster und warf ein breites, helles Rechteck auf den Boden.
Ich suchte nach Mary Miranda, der für die Tagschicht eingeteilten Schwester. Mary weiß über alles auf der Station Bescheid und kennt nicht nur die Geschichte jedes einzelnen Patienten, sondern auch die des ganzen Heims. Obwohl sie keine offizielle Leitungsposition innehat, gibt es unter den Ärzten und dem gesamten Pflegepersonal
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