Osiris Ritual
sogar einmal den weiten Weg zum
Grayling Institute auf sich nehmen und sie besuchen. Amelia erkannte jedoch,
was sich hinter seinen Augen abspielte. Er war der Ansicht, sie werde nicht
mehr lange leben. Vielleicht hatte er recht, vielleicht aber auch nicht.
Ãber den geheimnisvollen Dr. Fabian wusste sie nicht viel, doch
Veronica hatte seine Fähigkeiten in den höchsten Tönen gelobt, und Amelia
wusste, dass er der Queen immerhin als Leibarzt diente. Eine gröÃere Ehre
konnte man ihr wohl kaum angedeihen lassen. Sie hatte allen Grund, dem schillernden
Sir Maurice Newbury dankbar zu sein, zweifelte allerdings nicht daran, dass
seine Motive nicht ganz und gar selbstlos waren und eher damit zu tun hatten,
die Zuneigung ihrer Schwester zu gewinnen, als Amelia aus ihrer schwierigen
Lage zu helfen. Das spielte jedoch keine Rolle. Wie es auch um seine Motive
stand, Sir Maurice hatte ihr neue Hoffnung geschenkt.
Vielleicht sah Dr. Fabian in ihren Visionen mehr als nur einen Ausdruck ihrer
vermeintlichen Geistesstörung und konnte ihr sogar helfen, die schrecklichen
Bilder zu beherrschen, und obendrein dafür sorgen, dass ihr Körper nicht weiter
verfiel. Nicht, dass noch viel von ihrem Körper übrig geblieben wäre, dachte
sie bitter. Sie betrachtete die knochigen Knie, die durch den dünnen Stoff
ihres Kleids hervorstachen.
Früher war Amelia hübsch gewesen, mindestens so hübsch wie ihre
Schwester. Jetzt aber, ausgezehrt nach dem harten Leben in der Anstalt, übersät
mit den Wunden, die sie sich bei ihren zahlreichen »Episoden« zugezogen hatte,
wirkte sie älter und abgehärmter, als sie tatsächlich war. Sie hatte Falten im
Gesicht und dunkle Ringe unter den Augen, und sie war verzweifelt über die
eigene Müdigkeit. Vor allem hoffte sie, Dr. Fabian könne ihr Lebenskraft und
Lebensfreude zurückgeben, damit sie am Morgen wieder aus dem Bett aufstehen
könnte. Wagte sie, an die Möglichkeit zu denken, dass Dr. Fabian vielleicht
sogar eine Heilung für sie fand? Nein, das war nur eine wilde Fantasie. Aber
trotzdem, eine kleine Hoffnung war in ihr aufgekeimt. Wenn sie einfach nicht
darauf achtete, konnte das zarte Pï¬Ã¤nzchen vielleicht ungehindert wachsen.
Müde lehnte Amelia den Kopf an das kühle Leder der Rücklehne und
schloss die Augen. Sie würde jetzt schlafen, denn bald würde sie viel erleben,
bei dem sie wach bleiben musste.
Amelia fuhr auf, als die Kutsche mit einem Ruck anhielt. Sie
beugte sich vor und tastete eilig nach den Fenstervorhängen. Das Vehikel stand
am Ende einer langen, mit Kies bestreuten Zufahrt, auÃerdem bemerkte sie die
Ecke eines groÃen, aus grauem Stein gebauten Hauses. Sie waren da. Ihr
Herzschlag beschleunigte sich. Das war es, ihr neues Heim. Das Grayling
Institute.
Amelia lieà den Vorhang wieder vor das Fenster fallen und faltete
die Hände auf dem SchoÃ. Es wäre nicht gut, ihre Ungeduld zu zeigen. Sie
wartete. Unerträglich lange Minuten vergingen, auch wenn sie eigentlich gar
nicht genau sagen konnte, wie viel Zeit tatsächlich verstrich. Nach einer
halben Ewigkeit hörte sie endlich drauÃen auf dem Kies Schritte knirschen.
Jemand rief dem Kutscher etwas zu, die Worte übertönte jedoch der Wind. Dann
näherten sich die Schritte der Kabine. Unwillkürlich hielt sie den Atem an, als
jemand langsam den Griff herumdrehte und die Tür öffnete. Licht strömte durch
die Ãffnung herein und brannte ihr in den Augen. Blinzelnd vertrieb sie die
Tränen und hob sogar die Hand, um die Augen vor dem grellen Licht abzuschirmen.
Sie hatte im Sanatorium viel zu viel Zeit in abgedunkelten Räumen verbracht.
In der Tür erschien ein klein gewachsener Mann, knapp über eins
sechzig groÃ, mit schütterem Haar, das sich in Form einiger wehender Löckchen
tapfer an die Schläfen klammerte. Durch eine kleine Drahtbrille, die fast auf
der Nasenspitze saÃ, blickte er zu ihr empor. Er trug einen eleganten braunen
Anzug, ein weiÃes Hemd und eine schwarze Krawatte. Auf einmal setzte er ein
breites Lächeln auf. »Guten Morgen, Miss Hobbes. Es ist mir eine Freude, Ihre
Bekanntschaft zu machen. Ich bin Dr. Lucius Fabian.«
Amelia lächelte und rückte auf dem Sitz nach vorn. »Guten Morgen,
Dr. Fabian. Es ist mir wirklich eine Ehre, ich â¦Â«
Er unterbrach sie mit einer ungeduldigen Geste. »Nicht nötig,
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