Osiris Ritual
sie in ihren Visionen erblickt hatte, aber noch nicht recht
zuordnen konnte. Er hatte eine Geschichte, die noch nicht zu Ende war. Sie war
nicht sicher, ob sie genauer darüber Bescheid wissen wollte.
Dr. Fabian hatte Amelias Panik anscheinend bemerkt und legte ihr
beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Kommen Sie, Miss Hobbes. Es gibt keinen
Grund, sich zu fürchten. Mister Calverton wird sich um alle Ihre Bedürfnisse
kümmern.«
Sie gab sich Mühe, keine Grimasse zu schneiden, und lieà sich zum
Rollstuhl führen. Mr. Calverton kam ihr noch ein Stück entgegen. Sie
betrachtete das leere Gesicht und erkannte, dass dies mehr als alles andere ihr
Unbehagen ausgelöst hatte, denn man konnte nie wissen, ob der Mann hinter
dieser Porzellanfassade lächelte oder finster starrte. Die Augen schienen leer
und tot zu sein. Auf einmal verspürte sie eine Sehnsucht nach ihrem alten
Zimmer im Sanatorium. Sie schloss die Augen und schob die Ãngste weg.
Dr. Fabian legte ihr sanft die Hände auf die Arme und bugsierte sie
in den Rollstuhl. Amelia nickte dankbar, und dann näherte sich die kleine
Gruppe langsam dem imposanten Sitz des Grayling Institute.
Die Empfangshalle hatte viel von ihrer ursprünglichen Pracht
behalten: die kühn geschwungene Treppe mit der anschlieÃenden Galerie, der
schimmernde Marmorboden und die hohe, geschmückte Decke. In allen nur denkbaren
Richtungen schlossen Räume und Flure an die Haupthalle an wie die BlutgefäÃe,
die sich vom Herz aus verzweigen. Es war etwas ganz anderes als das Sanatorium.
Amelia gestattete sich ein Lächeln. Vielleicht hatte sie voreilig geurteilt.
Vielleicht waren ihre anfänglichen Hoffnungen berechtigt. Dies war ein Ort, an
dem sie gesund werden könnte.
Dr. Fabian führte sie links neben der Treppe durch einen kurzen
Flur. Hier hatten sich anscheinend früher die Dienstbotenzimmer befunden. Wie
Amelia jetzt bemerkte, hatte man die Räume in der Nähe der Haupthalle zu Patientenzimmern
umgebaut. Der Rollstuhl knarrte, als sie durch den Flur fuhren, Mr. Calvertons
FüÃe klickten auf dem harten Boden.
Kurz darauf blieb Dr. Fabian schon wieder stehen und deutete auf
eine offene Tür auf der rechten Seite des Flurs. Mr. Calverton hielt den
Rollstuhl an, Dr. Fabian räusperte sich in die geballte Faust. »Hier wären dann
Ihre Zimmer, Miss Hobbes, die Ihnen während Ihres Aufenthalts hier zur Verfügung
stehen. Ich hoffe, es entspricht Ihren Wünschen.« Er
trat zur Seite, damit sie es sehen konnte. Amelia keuchte. Ihr Apartment
bestand aus zwei Räumen, die über eine Innentür miteinander verbunden waren.
Sie besaÃen hohe Schiebefenster, die zu dem perfekt unterhaltenen Garten hinter
dem alten Herrenhaus blickten. Formschnittbäume waren Gestalten aus alten Sagen
nachgebildet, Vögel ï¬atterten über einem schimmernden See durch den Himmel. Die
Räume selbst waren mit dunkler Eiche vertäfelt und vortrefflich möbliert. In
dem kleineren Zimmer stand ein groÃes Himmelbett, im gröÃeren Salon gab es einen
marmornen Kamin, in dem ein behagliches Feuer knackte. Zwei Lehnstühle, ein
Sofa und eine Kommode vervollständigten die Einrichtung. An der hinteren Wand
hing ein altes Portrait, das einen königlich dreinschauenden Kerl in gotischer
Rüstung neben einer riesigen Kugel zeigte.
Amelia wollte sich aus dem Rollstuhl erheben, doch Dr. Fabian winkte
ihr, sie solle sitzen bleiben, und forderte Mr. Calverton auf, sie ins Zimmer
zu schieben. »Wirklich? Soll ich wirklich hier wohnen?«
Dr. Fabian lächelte. »Gewiss, Miss Hobbes. Ich bin sicher, Sie
werden sich hier wohlfühlen. Und nun« â er trat zurück, als wäre ihm plötzlich
etwas eingefallen â »wollen wir Sie allein lassen. Zweifellos sind Sie nach der
langen Reise müde. Vielleicht können wir heute Abend zusammen essen, und dann
erzähle ich Ihnen etwas über unsere Arbeit hier im Institut.«
Amelia nickte. »Ja, das wäre schön.«
»Ausgezeichnet! Ich komme dann um sieben Uhr wieder her und hole Sie
zum Abendessen ab. Ihr Gepäck wird gleich gebracht. Guten Tag, Miss Hobbes.«
»Einen guten Tag, Dr. Fabian.« Sie betrachtete ängstlich den anderen
Mann, der an der Seite stand und, ohne zu blinzeln, ihren Blick erwiderte. »Und
Ihnen auch, Mr. Calverton.« Der Maskierte schwieg, drehte
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