Ostfriesengrab
zuführt, werde ich in irgendeinem erbärmlichen Gefängnis sitzen, und alle Bilder sind hier oben.« Er tippte sich gegen die Stirn. »Dann kann ich malen, ganz in Ruhe. Solange ich will. Ich muss den Rausch nicht mehr verlassen.«
»Die Verpflegung ist nicht gerade gut im Knast.«
»Ach, Ann Kathrin, wenn ich meine Farben und meine Bilder habe, dann schmecke ich auf der Zunge, was ich male, nicht, was ich esse. Ich rieche die Farben und durch sie entsteht alles. Die Todesstrafe ist abgeschafft. Was soll mir schon passieren? Ich werde alle Sorgen los sein. Paradiesische Zustände.«
»Man wird dir keine Farben geben und keine Leinwand. Du wirst stupide Arbeit im Knast machen müssen.«
Er lachte, und es klang sehr überzeugend. »O nein, du hast gar keine Ahnung, wie groß die Gier der Menschen ist. Meine Bilder werden Millionen wert sein. Mit jedem Bild, das sie mich im Gefängnis malen lassen, können sie reich werden. Wenn der Staat dumm genug ist, mir die Malmöglichkeit zu nehmen, beraubt er sich selber gigantischer Einnahmen. Aber dann bleiben immer noch die Wärter. Unterschätz nicht die Gier der Menschen. Die werden bitteln und betteln, dass ich endlich male.
Es werden ganz andere Fragen wichtig als du denkst. Wem gehören die Bilder? Was geschieht mit dem Geld?«
»Als Gefangener steht dir nur ein Taschengeld zu.«
»Aber mich interessiert das Geld doch überhaupt nicht, Ann Kathrin. Wenn die Bilder mir gehören, werde ich jedes einzelne spenden. An wohltätige Organisationen. Sie werden mir ewig dankbar sein. O ja, ich werde ein großer Wohltäter der Menschheit werden. Ich werde amnesty international unterstützen, vielleicht Greenpeace. Bewässerungsprojekte in Somalia. Wahrscheinlich reichen ein, zwei Bilder von mir, um in der Ukraine ein Kinderkrankenhaus zu bauen und das ganze Personal ein Jahr lang zu finanzieren. Nach einer Weile werden meine eigentlichen Gräueltaten anders gesehen werden. Ich kann mit all dem Geld, das ich verdiene, Hunderte, Tausende anderer Menschenleben retten. Ich kann etwas gegen den Hunger in der Welt auf die Beine stellen. Es gibt sinnvolle Projekte von Nichtregierungsorganisationen. Sie sind nur mit zu wenig Geld ausgestattet.«
»Nein«, sagte sie. »Du wirst immer bleiben, was du bist. Ein kranker Mörder.«
Er holte aus, ballte die Faust, schlug aber diesmal nicht zu. »So, Frau Kommissarin? Das finde ich eine merkwürdige Argumentation. Am Anfang wird es sicherlich jeder so sehen, aber dann werden sich ganz andere Fragen stellen. Wer ist der Mörder? Der, der Hunderte an Hunger sterben lässt und selbst Steaks essen geht, oder der, der vier tötet, um berühmt zu werden und die Macht zu haben, Hunderte zu retten? Wie viele gerettete Menschenleben wiegen ein vernichtetes auf? Zehn? Hundert?«
Sie versuchte ihre Gedanken zu sortieren, um einen neuen Angriff zu riskieren.
»Ja«, sagte er, »ich stelle sehr existenzielle Fragen. Ich habe mich nie mit oberflächlichen Dingen zufriedengegeben. Es ist das Wesen der Kunst, die Frage nach dem Eigentlichen zu stellen. Kunst, die einfach nur schön ist und die man sich an
die Wand hängt, ist nichts. Sie muss eine Provokation sein. Die Menschen zu Entscheidungen zwingen. Polarisieren.«
»Wo sind meine Kleider?«, fragte Ann Kathrin. »Ich will mich anziehen, bevor ich weiter mit dir spreche.«
Er lächelte milde. »Ich habe sie bereits gewaschen, gebügelt und in ein kleines Päckchen verstaut. Es ist ein bisschen schade, der Gummi an deinem Slip ist gerissen, und vorne in der rechten Socke war ein kleines Loch. Ich habe es gestopft, damit man nicht später sagt, seht nur, wie die Kommissarin rumgelaufen ist.«
Weller fand es ungewöhnlich, dass Ann Kathrin keine Nachricht für ihn hinterlassen hatte. Vielleicht war sie wieder unterwegs, auf der Suche nach dem Mörder ihres Vaters. Oder sie besuchte ihren Sohn Eike. So ein Mutter-Sohn-Tag stand ja wohl seit langem mal wieder an.
Er kam sich blöd dabei vor, ihr hinterherzutelefonieren. Doch eigentlich wollten sie heute Abend gemeinsam kochen. Auf ihrem Handy meldete sie sich nicht, was Weller am meisten Sorgen machte.
Er fuhr gemeinsam mit Ubbo Heide zum Haus von Heiner Zimmermann in der Norddeicher Straße. Zimmermann öffnete nicht, und auch er ging nicht ans Handy. Jetzt wurde Weller nervös.
Er besuchte Zimmermanns Mutter in Sande. Sie wurde vom Pflegedienst versorgt und hatte ihren Sohn seit zwei Tagen nicht mehr gesehen. Er würde aber sicherlich zu
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