Ostfriesengrab
machen. Ihr die Persönlichkeit zu nehmen, damit sie für ihn zu einer Art Sache wurde. Um seinen Plan durchzuführen, durfte er auf keinen Fall menschliches Mitleid mit ihr empfinden. Vielleicht war das ihre Chance. Immerhin kannten sie sich. Es gab eine Beziehung, daran konnte sie anknüpfen. Sie war kein willkürlich ausgewähltes Opfer. Der Mord an ihr wäre die typische Vertuschungstat. Aus Angst, von der Polizei überführt zu werden, beseitigt der Täter einen Zeugen oder das Opfer selbst.
Schon zweimal hatte Ann Kathrin Männern gegenübergesessen, die unter Tränen beteuerten, doch keine Mörder zu sein. Sie hätten ihr Opfer nicht umbringen wollen, sie waren doch »nur Vergewaltiger«, aber aus Angst vor der Polizei und dem Verlust von gesellschaftlichem Ansehen hätten sie dann gar nicht anders handeln können. Beide hatten Familie und waren anerkannte Personen der Gesellschaft.
Er würde nicht versuchen, sie zu vergewaltigen, da war sie ganz sicher. Das war auch seinen anderen Opfern erspart geblieben. Daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel.
Warum hatte er sie hierher transportiert und angebunden? Warum machte er sich die Mühe, sie auszuziehen? Worum ging es hier eigentlich?
Dann wurde dieser dunkle Raum plötzlich von zwei grellen Neonröhren direkt über ihr erhellt. Unwillkürlich wollte sie ihre Augen mit der Hand schützen, was durch die Fesseln natürlich unmöglich war. Die Neonröhren waren direkt über ihr angebracht. Sie war immer noch ganz allein im Raum. Er musste das Licht also von außen ein- und ausschalten können.
Sie befand sich im Aufnahmeraum eines Tonstudios. Sie erkannte die schalldicht isolierten Wände. Rupert hatte also doch recht gehabt. Nur hatte Heiner Zimmermann garantiert keinen Architekten oder eine Baufirma beauftragt. Auf diesem Weg werden die Kollegen mich nicht finden, dachte sie. Aber wo steht dieses Haus? Es kann nicht sein Atelier an der Norddeicher Straße sein. Die SOKO hätte diesen Raum garantiert entdeckt. Die Kollegen waren vielleicht unsensibel vorgegangen, aber Trottel waren sie nicht.
Mit Schrecken dachte Ann Kathrin daran, wie richtig es gewesen war, das Haus zu stürmen. Wie dankbar wäre sie jetzt für den Einsatz eines Sonderkommandos gewesen. Eine Stimme in ihr zählte all die Fälle auf, in denen Hausdurchsuchungen nicht dazu geführt hatten, gefangen gehaltene Opfer zu entdecken. Hatte nicht der belgische Kinderschänder Dutroux in seinem selbst gebauten Verschlag zwei Mädchen versteckt? Der Polizei war das Ganze bei der Hausdurchsuchung nicht aufgefallen, obwohl Nachbarn sogar Schreie gehört hatten. Und wie war es im Fall Kampusch gelaufen oder in Amstetten? Vierundzwanzig Jahre lang hatten die Menschen der Umgebung nicht bemerkt, dass in ihrer Straße jemand seine privaten Vergewaltigungsräume
unterhielt, mit Insassen, die ohne jedes richterliche Urteil lebenslänglich bekommen hatten.
Auf Hilfe von außen konnte sie nicht rechnen. Schreien war reine Kraftverschwendung.
Sie sah ihren Vater vor sich, so wie er ihr früher oft Mut gemacht hatte, vor einer schwierigen Klassenarbeit, einem Basketballspiel oder ihrer Freischwimmerprüfung. Innerlich klammerte sie sich an dieses Bild. Sie brauchte jetzt so sehr jemanden, der stärker war als sie. Jemand, der garantiert zu ihr hielt, jemand mit viel Erfahrung, jemand, der unerschrocken war. Sie wusste natürlich, dass die Phantasie ihr einen Streich spielte, doch sie hörte seine Stimme ganz deutlich: »Er hat nicht alle Trümpfe in der Hand. Du kennst sein Blatt, aber lass dir von ihm nicht in die Karten schauen.«
Jetzt merkte sie, das sagte gar nicht ihr Vater. Sie sah ihren Vater, doch das waren nicht seine Worte. Das war Weller, der alte Skatspieler, der jetzt in ihrer Phantasie durch den Mund ihres Vaters redete.
Sie lachte bitter. »Was für Trümpfe hab ich denn bitte schön? Ich liege hier gefesselt auf dieser Plastikbahre. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich aufrecht stehen könnte, selbst wenn ich alle Fesseln los wäre.«
Jetzt war plötzlich nicht mehr Wellers Stimme da, sondern die ihres Vaters: »Trotzdem. Du bist ihm überlegen. Er ist verrückt. Du bist es nicht. Du kannst klar und logisch denken. Er hat Abgründe in sich, mit denen er nicht konfrontiert werden will. Deshalb tut er solche Sachen. Er will irgendeinen Schmerz nicht spüren. Er ist auf der Suche nach etwas. Anerkennung. Bewunderung. Vielleicht will er auch nur, dass man ihn fürchtet. Finde es heraus,
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