Ostseefluch
wie viel Uhr haben Sie das Haus verlassen?«
»Nach neun. So Viertel nach, kann auch zwanzig nach gewesen sein.«
»Wo sind Sie gewesen?«
»Rumgefahren. Ich wollte zum Wasservogelschutzgebiet Wallnau.«
»Was haben Sie dort getan? Aufzeichnungen gemacht oder vielleicht fotografiert?«
»Nein. Als ich dort war, hab ich gemerkt, dass ich meine Ausrüstung vergessen hatte. Außerdem war es zu heiß zum Arbeiten. Ich bin weiter zum Strand gefahren und hab gebadet. Und bin dann nur so rumgewandert.«
Na, wenn das nicht mal ein Alibi ist!, dachte Pia. »Hat Sie vielleicht irgendjemand gesehen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Wäre besser, oder? Als ich gegen zwei Uhr mittags zurückkam, war Milena nicht im Haus. Sie hat kein Auto, und ihr Fahrrad stand wie fast immer platt im Vorgarten. Sie konnte also nicht weggefahren sein. Das war seltsam.«
»Was taten Sie dann?«
»Ich hab nach ihr gerufen und sie überall im Haus gesucht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie in der Mittagshitze draußen ist. Je mehr Zeit vergangen ist, desto mehr hab ich mich gefragt, wo sie nur steckt. Ich dachte mir, dass ich doch mal im Garten nachsehe, und da ... fielen mir die Vögel auf.«
»Was für Vögel?«
»Möwen. Mehrere Sturmmöwen und eine Silbermöwe, um genau zu sein. Largus argentatus. Ihr Geschrei kam aus dem Gemüsegarten. Ich bin hin, um nachzusehen. Da habe ich Milena dann gefunden ...« Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und starrte eine Weile schweigend vor sich hin. »Eigentlich wusste ich gleich, dass sie tot sein muss, als ich sie so daliegen sah. Möwen sind Allesfresser, sie fressen sowohl lebende Nahrung als auch Aas. Sie sind dabei nicht wählerisch, echte Überlebenskünstler. Man nennt sie auch ›Ratten der Lüfte‹, wussten Sie das?« Er sah Pia verwirrt an. Offenbar hatte er den Faden verloren.
»Und was haben Sie dann unternommen?«
»Ich stand erst wie versteinert da. Irgendwann hab ich Milena dann doch angefasst, wollte sie umdrehen, aber ich konnte es nicht. Es war grauenhaft. Ihr Kopf, die offene Wunde ... Sie war schon tot, oder? Bestimmt war sie schon tot! Ich hätte ihr nicht mehr helfen können, oder?«
»Der Arzt schätzt, dass sie mindestens zwei Stunden tot war, bevor er hier eintraf.«
Patrick senkte den Blick. Pia fielen seine erstaunlich langen, dichten Wimpern auf.
»Haben Sie sonst noch etwas dort angefasst?«, fragte sie.
»Nein. Ich glaube nicht ... Ich bin zurück ins Haus gelaufen und hab die Polizei angerufen. Nicht mal den Notarzt – gleich die Polizei. Die haben aber trotzdem noch einen Rettungswagen hergeschickt. Vollkommen umsonst.«
»Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, das Sie uns bei dieser ersten Befragung noch sagen möchten?«, hakte Gerlach nach.
Patrick Grieger sah ihn irritiert an. »Ich hätte es mir denken können! Das heute war natürlich noch nicht alles.«
»Wir stehen noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen. Wer hatte Ihrer Meinung nach ein Motiv, Milena Ingwers zu ermorden? Hatte sie Feinde?«, fragte Pia.
»Braucht es immer einen Grund? Es gibt doch genug Perverse auf der Welt.«
»Konkret fällt Ihnen niemand ein?«
Er schüttelte den Kopf.
»Können Sie uns sagen, wen wir benachrichtigen müssen? Was ist mit ihren Eltern?«
»Sie unterschätzen die Fehmaraner Buschtrommeln.«
Pia reichte die Adresse von Milenas Eltern, die Patrick Grieger ihnen widerstrebend notiert hatte, an Horst-Egon Gabler weiter, der diese Ermittlungen leitete. Je eher die Eltern des Opfers informiert wurden, desto besser. Das Haus mit dem Fundort der Leiche lag zwar abseits vom eigentlichen Ort, aber jedes Fahrzeug, das jetzt hier war, hatte Weschendorf passieren müssen. Und wenn nicht schon die Polizeifahrzeuge und der Rettungswagen im Dorf Aufmerksamkeit erregt hatten, dann mit Sicherheit der Leichenwagen. Es wunderte Pia, dass noch keine Schaulustigen aufgetaucht waren. Aber was wusste sie schon? Sie saß seit einer halben Stunde in dieser Küche, deren einziges Fenster in den Garten hinter dem Haus hinausging. Auf dem mit Unkraut überwucherten Vorplatz hätte inzwischen die Bühne für »Fehmarn Open Air« aufgebaut worden sein können, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hätte.
Irma Seibel war die Nächste, die befragt werden sollte. Sie hatte inzwischen ihre Tochter abgeholt und bei Freunden untergebracht, solange die Polizei in ihrem Haus alles auf den Kopf stellte, wie sie in vorwurfsvollem Ton erklärte.
Pia schluckte jeglichen Kommentar
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