Ostseeliebe
dann legte sich der ganze gewaltige Kremser auf die Seite, die Ladung kippte, und Kisten und Kasten und der Mann darauf stürzten ins brüchige Eis. Die Pferde bäumten sich in wilder Panik auf, gerieten mit den Beinen über die Deichsel, trampelten Lederzeug und Gurte nieder, zerfetzten die Riemen, waren nun von keinem Menschen, von keiner Macht der Welt mehr zu halten, bestanden nur noch aus Angst, purer, kreatürlicher Angst, rissen sich los, jagten davon in die Nacht, galoppierten rutschend und stolpernd in die Richtung der kleinen Insel, schleiften die Reste des Geschirrs hinter sich her, waren verschwunden.
»Jörg!«
Mit Mühe bändigten Anne und Schuck die beiden anderen Kutschpferde, Hilda war bei Denver.
»Schnell! Um Gottes willen!«
Hanno wollte zu der Stelle, wo Jörg mitsamt der Ladung verschwunden war, aber sofort knackte das Eis unter ihm, drohte zu brechen. Hanno schaute sich um. Überlegte.
»Ich hab’s! Komm, hilf mir! Hilda?!«
Hanno faßte Julia bei der Hand. Sie gingen ganz vorsichtig zu Hilda, die auf den alten Wallach einredete. Der wirkte ungehalten, aber nicht ängstlich, kaute nur ärgerlich auf seiner Trense herum.
Ein Stöhnen kam von der Einbruchsstelle, so etwas wie ein Hilferuf. Anne lies Leos Halfter los, bewegte sich mit ihrer Taschenlampe auf das Stöhnen zu, erschrak.
»Er steckt bis zu den Hüften im Eis, klammert sich am Wagen fest.«
Hanno betrachtete den Schlitten. Dann ging alles sehr schnell. Mit ein paar entschlossenen Schnitten hatte er Denver von den Riemen und Gurten befreit. Drehte und wendete den Schlitten. Gab den Frauen Befehle.
Hilda blieb mit Schuck bei den Pferden. Die anderen drei gingen in die Hocke, Hanno, Anne und Julia. Ließen sich auf die Knie nieder, packten den Schlitten und schoben ihn vor sich her. Ganz, ganz langsam zu der Stelle, wo Jörg im eiskalten Boddenwasser steckte, nur noch leise jammernd.
»Es ist so kalt, es ist so verdammt kalt, mein Bein...«
Immer näher, immer näher. Das Eis ächzte und quietschte wie ein altes Boot. Noch langsamer. Jetzt hatten sie es fast bis zu Jörg geschafft, und dann sahen sie es: Die Einbruchstelle war nicht glatt, keine gerade Kante, sondern aufgeworfen und zersplittert.
»Ihr haltet den Schlitten! Schuck! Komm her!«
Hanno robbte auf den Schlitten. Von hinten hörten sie,
wie Schuck näherkam, auch er nun auf den Knien, keuchend. Sie schoben den Schlitten, auf dem Hanno jetzt lag, mit vereinten Kräften noch ein bißchen näher. Ein Meter vielleicht noch bis zu Jörg, der flehend einen Arm ausstreckte.
»Hanno!«
»Halt die Klappe! Los, noch ein Stück!«
Es knackte gewaltig. Julia erschrak. Hanno hangelte jetzt vorsichtig seinen Oberkörper vom Schlitten, immer weiter, immer weiter, bis nur noch die Beine auf dem Schlitten lagen. Er hielt einen Lederriemen in der ausgestreckten Hand. Sie hörten Wasser gurgeln, Atmen, sonst nichts. Jörg griff nach der Hand, nach dem Riemen. Hanno redete ihm gut zu, hieß ihn, sich den Riemen ein paarmal um den Arm zu wickeln. Sie hörten Jörgs Zähne klappern. Es dauerte unendlich lange.
»Ich bin so müde, Hanno!«
»Quatsch nicht rum! Du bist überhaupt nicht müde, du bist knallwach, los jetzt, sonst kriegst du Ärger!«
Hanno zog an dem Riemen, wandte sich zu den anderen.
»Los jetzt, zurück das Ganze. Und immer schön langsam! Ganz, ganz langsam!«
Julias Knie waren zu Eis gefroren. Ihre Schultern schmerzten. Schuck hatte die Lippen fest zusammengepreßt. Noch immer hatte er kein Wort gesagt. Anne blickte konzentriert wie stets, blaß, angespannt, Julia sah, daß ihre Handschuhe gerissen waren. Die Pferde? Im Schneckentempo bewegten sie sich rückwärts. Fühlten den Widerstand, als sie begannen, Jörg aus dem Eis zu ziehen. Hanno hatte seine Füße im Schlittenrahmen verkeilt, stöhnte leise, gab aber nicht nach. Allmählich kam Jörgs Oberkörper zum Vorschein, glitt sein Bauch, glitten die Hüften aufs Eis. Das splitterte.
»Nicht aufhören! Einfach weiter so!« schrie Hanno.
Sie schafften es. Sie zogen Jörg aus dem Eis. Zwei Meter noch, einen, noch ein Stück.
Dann sprang Hanno vom Schlitten, stürzte Hilda herbei, einen Ballen Decken auf dem Arm. Anne, Julia und Schuck erhoben sich, weiß vom Schnee, steifgefroren.
»Junge, Junge!« sagte Schuck. Es war sein erster Kommentar heute.
Sie wickelten Jörg in sämtliche Decken, die sie finden konnten. Rieben ihn warm, flößten ihm Tee ein, Schnaps, umarmten ihn.
»Du blöde Sau!«
Hanno
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