Ostseeliebe
doppelter Sanddornschnaps, heiß gemacht und mit viel Honig gesüßt, zu helfen vermochte. Sie erzählten beispielsweise von einem Wind, der anno 1870 mit solcher Wucht über Stralsund hinweggefegt war, daß er die Bleidächer abgehoben hatte wie Schriftrollen, und im Handumdrehen hätten die Leute mit nichts dagestanden, über sich im Haus nur noch das nackte Skelett eines Dachstuhls …
Die Seeleute meinten, das sei noch gar nichts, denn so ein Sturm wie der hiesige, der ließ sich ja meist vorhersagen, der kündigte sich an durch bestimmte Wolkenformationen und die Luft. Richtig gefährlich seien aber die plötzlichen Sturmböen auf See, die sich mir nichts, dir nichts am helllichten Tag über so ein armes Schiff und seine brave Besatzung hermachen und es verschlingen. So war es 1878 der berühmten Fregatte Eurydice ergangen, die auf der Heimfahrt von der Karibik gerade mit vollen Segeln in den Ärmelkanal einbog, als kurz vor der Isle of Wight eine mächtige Brise kam. Noch bevor die Mannschaft die Segel einholen konnte, krängte das Schiff bereits, Wasser lief in die Luken, und der ganze Segler sank mit Mann und Maus - bis auf die zwei tüchtigen Seeleute, die die ganze Geschichte noch hatten erzählen
können. Und gar nichts wiederum war das gegen die bösartigen afrikanischen Winde, die meist richtige Vornamen hatten, wie der Gubo an der Südküste von Neuguinea oder der Sumatra der Malakkastraße oder die Williwaws in Alaska.
Irgendwann wurde es allmählich allen klar, daß dieser Winter es sich noch einmal richtig gemütlich machen würde. Kein Gedanke daran, daß die Eisbrecher aus Stralsund oder womöglich von Rostock losgeschickt würden, man hatte sich aufs Warten einzustellen, darauf, daß sich der Wind drehte und wärmere Luftmassen herbliese. Die Kälte zerrte an den Häusern, ließ Läden klappern und Stalltüren sich verbiegen. Ein letztes Mal brachte der alte Schuck mit dem Pferdeschlitten den Pastor von der großen Insel, doch nur ein paar Frauen schnieften mit ihnen in der Kirche um die Wette, das alte Gemäuer war nicht mehr warmzukriegen. Dann blieb auch der Pastor fort, und die Händler aus Bergen zeigten wenig Neigung, sich mit dem Pferdewagen auf den beschwerlichen Weg übers Eis zu machen, obwohl ihnen die Stiftsdorfer und Godshorner unter der Hand eine tüchtige Prämie boten. Offiziell waren solche Expeditionen verboten, aber wirklich geahndet wurden sie kaum. Hilda wurde als eine der ersten ernsthaft ungeduldig. Sie brachte ihre Angelegenheiten auf dem Festland kaum voran. Die drei Geschäftsleute, die eine Menge Leute gegen sich aufgebracht hatten bei ihrem Vortrag damals im Herbst, hießen seitdem nur noch »die drei Karierten«. Einzig Hilda und ein paar andere sprachen immer ganz ordentlich von den Herren Misburg, Mayer und Partner - so als wäre »Partner« der dritte Name. Hilda freilich hob sich von den anderen, die sich den Anstrich der Eingeweihten gaben, noch dadurch ab, daß sie wenig erzählte, und wenn sie sich doch einmal hinreißen ließ, immer häufiger von »Pieter« und »Andi« sprach. Allerdings verlor auch sie allmählich
den Mut, weil es die drei Karierten offenbar an Geduld fehlen ließen. Die wollten ein Geschäft, und zwar bald, und zeigten obendrein wenig Neigung, die Grundstücke, um die es ging, bei diesem Wetter noch einmal anzuschauen. Sie luden Hilda statt dessen nach Rostock ein, nach Lübeck sogar, und Hilda kehrte viel später zurück als geplant, angeblich, weil es partout keine Verbindung gegeben hatte.
Unter normalen Umständen hätte Julia sicher viel mehr auf diese Entwicklung geachtet, aber von normalen Umständen konnte keine Rede mehr sein in diesem Winter. Nach und nach brachten die Winde nun auch noch Schnee herbei, schaufelten weiße Massen auf den zugefrorenen Bodden, auf die Heide und den Föhrenwald. Bizarre Astgebilde staken am Strand in die Luft, die Buhnenfelder auf der Seeseite, die die schlimmsten Wellen draußen brechen sollten, wirkten wie schlaksige Schneemänner, von Riesen ins Wasser gerammt.
Die Tiere kamen näher an die Häuser. In Godshorn wurden Füchse gesehen. Eines Morgens irrte ein Reh mit verwirrtem Blick über das, was einmal die Dorfstraße gewesen war und nun unter dem Schnee begraben lag. Man verlor das Gefühl für die Zeit, denn eigentlich blieb es immer dunkel. Nur der Schnee leuchtete unwirklich auf den Wegen. Anne und Julia gewöhnten sich an, noch nach dem Abendessen zu arbeiten, sie wußten selbst nicht
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