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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Frau mit einem scharfen Lachen und wachen Augen, die Jura studierte, hatten in einem der Pubs in der Nähe der Uni einen getrunken. Dann war noch jemand zu ihnen gestoßen, einer aus Niles’ unüberschaubarer Heerschar von Freunden. (Niles sammelte Freunde, wie andere Leute Gummibänder oder Briefmarken auf Reserve legten, schließlich, pflegte er zu bemerken, wisse man nie, wann man mal einen brauche.) Der neu Hinzugekommene, dessen Gesicht und Namen Paul längst vergessen hatte, war eben von einer Reise nach Indien zurückgekehrt und verbreitete sich ausführlich über die wahnsinnige Schönheit des Tadsch Mahal bei Nacht: Es sei das vollkommenste Bauwerk aller Zeiten, und überhaupt sei seine architektonische Vollkommenheit mittlerweile auch wissenschaftlich bewiesen.
    Portia ihrerseits erklärte, der schönste Fleck auf Erden sei ohne Zweifel die Dordogne in Frankreich, und wenn sie bei diesen gräßlichen Familien in elektrischen Campingwagen mit PSATs auf dem Dach nicht so beliebt geworden wäre, würde niemand es wagen, diese Tatsache in Frage zu stellen.
    Niles, in dessen Familie von jeher viel gereist wurde – so viel, daß sie das Wort »reisen« so wenig gebrauchten, wie ein Fisch es nötig hätte, von »schwimmen« zu reden –, vertrat die Ansicht, daß es völlig witzlos sei, das Gespräch fortzuführen, solange nicht alle Anwesenden das karge Hochland des Jemen gesehen und die ehrfurchtgebietende, herbe Schönheit der Gegend erlebt hätten.
    Paul hatte einen Gin Tonic geschlürft, nicht seinen ersten, und nach Gründen dafür geforscht, warum die Limone manchmal oben blieb und manchmal auf den Grund sank, und ebensosehr nach Gründen dafür, warum er sich im Zusammensein mit Niles, einem der nettesten Menschen, die er kannte, immer wie ein Hochstapler fühlte, als der Fremde (der vermutlich damals einen Namen besessen hatte) ihn nach seiner Meinung gefragt hatte.
    Paul hatte einen Schluck der schwach bläulichen Flüssigkeit genommen und geantwortet: »Der schönste Fleck auf Erden ist meiner Meinung nach die Westminster Bridge bei Sonnenuntergang.«
    Nach dem Ausbruch ungläubigen Gelächters hatte Niles, wohl um seinem Freund aus der peinlichen Lage zu helfen, nach Kräften den Eindruck zu erwecken versucht, daß Paul sich einen köstlichen Scherz auf ihrer aller Kosten mache. Und peinlich war seine Lage in der Tat gewesen: Portia und der andere junge Mann hielten ihn offensichtlich für einen Trottel. Er hätte genausogut das Wort »Hinterwäldler« auf der Stirn tätowiert haben können. Aber es war ihm ernst gewesen, und statt geheimnisvoll zu lächeln und den Mund zu halten, hatte er sich bemüht, Gründe dafür anzuführen, und es damit natürlich nur noch schlimmer gemacht.
    Niles hätte dasselbe sagen können und es entweder als einen brillanten Witz hingestellt oder die These so klug vertreten, daß die anderen am Schluß heiße Tränen in ihren Merlot vergossen und ewige Vaterlandstreue gelobt hätten, aber Paul hatte noch nie so geschickt mit Worten jonglieren können, schon gar nicht, wenn ihm etwas wichtig war. Er hatte zunächst gestottert, dann konfuses Zeug geredet und war zum Schluß so wütend geworden, daß er abrupt aufstand – und dabei unabsichtlicherweise sein Glas umstieß – und unter den schockierten Blicken der anderen aus dem Pub stürmte.
    Niles zog ihn noch hin und wieder mit dem Vorfall auf, aber sein Gewitzel war harmlos, als spürte er, auch wenn er es nie wirklich verstehen konnte, wie qualvoll die Sache für Paul gewesen war.
    Aber es stimmte, hatte er damals gedacht und dachte er jetzt wieder, daß die Brücke das Schönste war, was er kannte. Wenn die Sonne tief stand, schienen die Gebäude am Nordufer der Themse von innen her feurig zu leuchten, und es erstrahlten selbst diejenigen, die in den gelegentlichen und für viele der neueren Londoner Baumaßnahmen typischen Anwandlungen von Geschmacklosigkeit in die Höhe geschossen waren, im Glanz der Ewigkeit. Das war England, genau das, alles, was es jemals war, alles, was es jemals sein konnte. Die Brücke, die Parlamentsgebäude, die gerade noch sichtbare Westminster Abbey, sogar Cleopatra’s Needle und die kauzigen viktorianischen Lampen am Embankment – alle waren so lächerlich, wie es nur ging, so hohl und aufgeblasen, wie die menschliche Phantasie sie nur aushecken konnte, aber zugleich auch das Zentrum von etwas, das Paul zutiefst bewunderte, aber nie ganz definieren konnte. Und obwohl nationalistische

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