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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Gefühlsduseligkeit das Bild weitgehend entwertet hatte, besaß sogar der berühmte Glockenturm von Big Ben eine Schönheit, die ebenso zierlich wie atemberaubend schroff war.
    Aber so etwas konnte man nicht nach dem dritten Gin Tonic Leuten wie Niles’ Freunden erklären, die bewaffnet mit der unerschütterlichen Ironie einer Privatschulbildung durch eine Erwachsenenwelt sausten, die ihnen noch keinerlei bremsende Verantwortung aufgebürdet hatte.
    Doch wenn Niles dort gewesen wäre, wo Paul gerade herkam, erlebt hätte, was Paul erlebt hatte, und in diesem Moment die Brücke sehen könnte – das liebe, alte Ding, wie es da völlig unverhofft dem Nebel entstieg –, dann würde gewiß selbst Niles (Sohn eines Abgeordneten und inzwischen selbst ein aufsteigender Stern im diplomatischen Dienst, ein Weltmann vom Scheitel bis zur Sohle) auf die Knie sinken und ihre steinernen Pfeiler küssen.
     
    Das Schicksal gab sich mit der Wunscherfüllung doch nicht so großzügig, wie es zunächst den Anschein machte. Die erste Enttäuschung – und die kleinste, wie sich herausstellte – war, daß die Sonne in Wirklichkeit gar nicht unterging. Während Paul wie besessen von der Idee, am Victoria Embankment anzulegen, weiterpaddelte, statt gleich das Ufer an einer weniger verheißungsvollen Stelle anzusteuern, wurde die Sonne schließlich sichtbar, oder wenigstens wurde die Himmelsrichtung, aus der sie schien, ein wenig konkreter: Sie stand im Osten und war am Aufgehen.
    Früher Morgen also. Egal. Er würde wie geplant am Embankment an Land klettern, bestimmt von gaffenden Touristen umringt, und zum Charing Cross spazieren. Er hatte kein Geld in den Taschen, deshalb mußte er es wohl als Bettler versuchen, einer der Leute mit einer obligatorischen Leidensgeschichte, der die Angebettelten kaum zuhörten; sie entrichteten ihren Tribut, um so schnell wie möglich zu entkommen. Wenn er das Geld für eine U-Bahn-Fahrt beisammen hatte, wollte er heimfahren nach Canonbury. Eine Dusche bei sich zuhause, mehrere Stunden wohlverdienten Schlaf, und dann konnte er zur Westminster Bridge zurückkehren und den richtigen Sonnenuntergang betrachten und dem Himmel danken, daß er durch das chaotische Universum zurückgefunden hatte ins herrliche, vernünftige London.
    Die Sonne stieg ein wenig höher. Mit ihr kam ein Wind von Osten auf, der einen höchst unangenehmen Geruch mit sich brachte. Paul rümpfte die Nase. Seit zweitausend Jahren war dieser Fluß das Lebensblut Londons, und die Leute behandelten ihn immer noch mit der gleichen ignoranten Achtlosigkeit wie ihre primitivsten Vorfahren. Es roch nach Kloake und Industrieabwässern – dem säuerlichen Fleischgestank nach zu urteilen, gab es sogar Einleitungen aus der Lebensmittelproduktion –, doch selbst die widerlichsten Ausdünstungen änderten nichts an seiner unendlichen Erleichterung. Dort zur Rechten stand der Cleopatra’s Needle genannte Obelisk, eine schwarze Silhouette im Nebel, der immer noch am Flußufer hing, hervorgehoben von einem großflächigen Beet knallroter Blumen, die in der Brise flatterten. Das überall leuchtende Scharlachrot deutete darauf hin, daß die Gärtner tüchtig zu arbeiten gehabt hatten. Paul war beruhigt. Vielleicht war heute ein Feiertag, und es gab irgendeine Zeremonie am Trafalgar Square oder am Cenotaph, dem Ehrenmal für die Gefallenen der Weltkriege – er hatte schließlich keine Ahnung, wie lange er fort gewesen war. Vielleicht war das Gebiet um das Parlament herum abgesperrt worden, das Ufer machte wirklich einen sehr stillen Eindruck.
    Dieser Gedanke, der, kaum gefaßt, schon einen düsteren Ton annahm, zog sogleich eine zweite Überlegung nach sich. Wo war der Schiffsverkehr? Selbst am Volkstrauertag oder einem ähnlich bedeutenden Feiertag würden auf dem Fluß Frachter fahren, oder etwa nicht?
    Er blickte nach vorn auf den fernen, aber langsam größer werdenden Umriß der Westminster Bridge, trotz des Nebelschleiers unverkennbar, und auf einmal kam ihm eine noch erschreckendere Erkenntnis. Wo war die Hungerford Bridge? Wenn das, was da rechts von ihm in Sicht kam, das Victoria Embankment war, dann mußte die alte Eisenbahnbrücke eigentlich unmittelbar vor ihm sein. Er hätte genau jetzt direkt darauf schauen müssen.
    Er lenkte das Ruderboot aufs Nordufer zu und spähte angestrengt. Er konnte die Kontur eines der berühmten delphinumwundenen Laternenpfähle aus dem Nebel auftauchen sehen, und abermals fiel ihm ein Stein vom Herzen: Es

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