Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Simulation zu verletzen. Ich bin mir ziemlich sicher, daß es im Original gar keine magische Wachtel gab, weil der wirkliche Odysseus wahrscheinlich das altgriechische Gegenstück zu einem modernen Flugzeugträger aus einem Haufen Federn und einem Stock zusammenschustern konnte …
Bei dem Gedanken an Federn vergewisserte er sich kurz, daß er das Tuch immer noch um die Taille trug. Wenn er von diesen Dingen irgend etwas begriff, durfte er dieses letzte Geschenk der Vogelfrau auf keinen Fall verlieren.
Vogelfrau … Ich sollte mir einen besseren Namen für sie ausdenken. So hört sie sich an wie die Heldin aus einem Actioncomic.
Nachdem sich der Rat der Wachtel, noch ein paar kleinere Bäume als Walzen zu schlagen, als sinnvoll herausgestellt hatte, konnte er schließlich sein Floß über den weißen Strand zum Meer ziehen, wo Kalypso wieder erschien.
»Komm, Odysseus«, sagte sie. »Komm, mein sterblicher Geliebter. Die Sonne küßt schon beinahe die Wellen – zu solcher Tageszeit bricht man nicht zu einer gefährlichen Fahrt übers Meer auf. Schenke mir noch diese letzte Nacht, dann kannst du auf der morgendlichen Flut davonsegeln.«
Ohne es recht zu merken, wartete er auf einen Kommentar von der Wachtel, die ihm zum Strand hinunter gefolgt war. »Sie ist nett, aber manchmal auch ziemlich halsstarrig«, sagte der Vogel mit einer Stimme, die er allein zu hören schien. »Wenn du die Nacht dableibst, wird sie dich derart mit Küssen überhäufen, daß du am Morgen dein Vorhaben abzufahren vergessen haben könntest. Dann werden die Götter noch zorniger auf dich sein.«
Paul mußte wider Willen grinsen. »Was verstehst du denn von Küssen?«
Sie starrte ihn einen Moment lang an und flitschte dann mit einem verärgerten Schwanzwackeln hinter einen Felsen. Erst tat es ihm leid, daß er sich nicht ordentlich bei ihr bedankt hatte, doch dann fiel ihm ein, daß er es mit einer reinen Codekreatur zu tun hatte, auch wenn sie noch so charmant war. Dies veranlaßte ihn, noch einmal zu überdenken, was Kalypso ihm anbot und was die Göttin mit ziemlicher Sicherheit selber war.
»Nein, Herrin«, sagte er. »Ich danke dir, und niemals werde ich meine Zeit hier auf deinem holden Eiland vergessen.« Paul hätte sich am liebsten geohrfeigt – obwohl er keinerlei Talent dafür hatte, verfiel er unwillkürlich in eine blumige epische Sprache. »Egal, jedenfalls muß ich los.«
Bekümmert nahm Kalypso von ihm Abschied und gab ihm noch Schläuche voll Wein und Wasser mit sowie Krüge voll Wegzehrung, die sie ihm bereitet hatte. Als er gerade das Floß ins Wasser befördern wollte, kam die kleine Wachtel wieder um den Felsen getrippelt und hopste auf das Ruder. »Und wo willst du hin?« fragte sie.
»Nach Troja.«
Der Vogel legte den Kopf schief. »Du bist völlig durcheinander, edler Odysseus, vielleicht hast du dir den Kopf irgendwo angeschlagen. Ich bin sicher, deine Frau wartet sehnsüchtig darauf, daß du nach Hause kommst und ihr mit eurem flügge werdenden Sprößling hilfst, statt daß du dich wieder mit den Trojanern rumprügelst. Aber wenn du es dir in den Kopf gesetzt hast, achte darauf, daß die Sonne immer zu deiner Linken untergeht.« Sie hüpfte herunter. Er dankte ihr für ihre Hilfe, schob dann das Floß von den Walzen ins Wasser, stieg ein und stieß es mit der langen Stange, die er sich gemacht hatte, vom Ufer ab.
»Lebwohl, Sterblicher!« rief Kalypso, wobei ihr eine Träne lieblich im Auge glänzte und die Haare sich wie Gewitterwolken um ihr allzu perfektes Gesicht bauschten. »Ich werde dich niemals vergessen!«
»Gib auf Skylla und Charybdis acht!« piepste die Wachtel. Nach Pauls dunklen und lückenhaften Erinnerungen an Homer waren das irgendwelche gefährlichen Felsen. »Sonst packen sie dich wie eine Schlange ein Ei!«
Er winkte und segelte aufs offene Meer hinaus, das von der sinkenden Sonne inzwischen in eine gehämmerte Kupferplatte verwandelt worden war.
Im Heldenzeitalter nachts auf See zu sein war auf einem Floß eine ganz andere Sache, als wenn man an ein Stück Holz geklammert im Wasser strampelte. Der Himmel war pechschwarz und der Mond nur eine haarfeine Sichel, aber die Sterne schienen zehnmal heller als alle Sterne, die er je gesehen hatte. Er verstand, wie die Alten darauf gekommen waren, in ihnen Götter und Helden zu sehen, die auf die Taten der Menschen herabschauten.
Zur längsten, finstersten Stunde der Nacht kamen ihm auch die Zweifel wieder. Wenn ihm der kleine Gally
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