Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
ausweichen. Einem Kopf hackte er ein Stück schuppige Haut ab, aber ein dritter schnappte von hinten nach ihm und hätte ihn beinahe erwischt. Das Segel war fort, und der zersplitterte Mast bot wenig Schutz, aber trotzdem schlitterte er über das schaumglatte Deck und stellte sich mit dem Rücken dagegen, während er unentwegt mit der Axt nach den lauernden und plötzlich vorschnellenden Köpfen schlug, die nach einer Möglichkeit suchten, ihn durch den Wirbel der rasiermesserscharfen Schneide zu erwischen. Paul hieb in einen Kiefer, und das Maul wich zischend und rosigen Schleim spuckend zurück, allerdings nicht sehr weit.
Trotz der wunderbaren Leichtheit seiner Waffe ermüdete er zusehends, und die Köpfe griffen jetzt nicht mehr so überstürzt an. Sie wiegten sich wie Kobras, warteten auf eine Lücke in seiner Abwehr.
Das Brüllen der Charybdis wurde schon seit einer Weile wieder lauter. Pauls einziger flüchtiger Gedanke war, daß er jetzt wahrscheinlich auch noch in den Strudel hineingezogen wurde, damit die Götter sich seines Verderbens auch ganz sicher sein konnten, wobei ihm allerdings auffiel, daß das Geräusch sich verändert hatte und jetzt nach einem tiefen Gurgeln klang, ungefähr so, als ob der größte Riese der Welt Suppe schlürfte. Auf einmal, während die Köpfe der Skylla weiter hin und her tänzelten und darauf warteten, daß die Axt in seinen erlahmenden Händen ein kleines bißchen langsamer zuhieb, hörte das Donnern des Strudels schlagartig auf, und das Meer wurde still.
Die ungeheure Stille dauerte nur wenige Herzschläge lang – Paul konnte das vielköpfige feuchte Schnauben der Skylla und das Klatschen der Wellen an die Felsen hören –, dann spie die Charybdis plötzlich mit einem Gebrüll, das mindestens so laut war wie vorher, die verschlungene Meeresflut in einer gewaltigen Fontäne wieder aus, die mehrere hundert Meter hoch in die Luft schoß. Die blinden, gefräßigen Köpfe zögerten, als die ersten Güsse des weißgrünen Wassers niedergingen, dann schleuderte die Urgewalt des umgekehrten Strudels Pauls Floß so ungestüm in die Höhe, als ob es von einem Katapult abgeschossen worden wäre. Bevor die Wasser über sie hereinbrachen, schnappten die Mäuler der Skylla noch einmal nach ihm, aber er war schon fort. Die große Welle ließ den kleinen hölzernen Untersatz in solcher Windeseile durch die Meerenge wirbeln, daß Paul gerade noch die Ruderpinne fassen konnte. Seine Hand schloß sich um den Schleier.
Schwarze Felsen sausten an ihm vorbei, und das Meer war erst über, dann unter, dann wieder über ihm. Durch fliegende weiße Gischt stieg er immer höher empor, so daß er einen Moment lang, aller Schwerkraft enthoben am Ende des dünnen Schleiers hängend, das Meer und die beiden Felseninseln unter sich liegen sah. Dann warf ihn die Welle wieder hinab, und wie ein hüpfender Stein schlug er einmal und noch einmal auf dem Rücken des Meeres auf, bevor ein letzter Aufprall ihm das Bewußtsein raubte.
Kapitel
Krieg im Himmel
NETFEED/NACHRICHTEN:
»Gepanzertes« Kleinkind überlebt lebensgefährlichen Sturz
(Bild: Jimmy mit Vater und Stiefmutter)
Off-Stimme: Der dreijährige Jimmy Jacobson, vor zwei Jahren schon einmal Gegenstand eines weithin bekannt gewordenen elterlichen »Liebeskrieges« um das Sorgerecht für ihn, hat offenbar aufgrund biologischer Modifikationen einen Sturz aus dem dritten Stock überlebt. Sein Vater Rinus Jacobson, dem damals das Sorgerecht zugesprochen wurde, erklärt, er habe durch Anwendung ’einfacher biologischer Gesetzmäßigkeiten’ das Skelett des Jungen gefestigt und seine Haut härter gemacht.
(Bild: Rinus Jacobson bei einer Pressekonferenz)
Jacobson: »Ich habe es selbst durchgeführt. Diese Erfindung wird Eltern auf der ganzen Welt eine große Hilfe sein. Jetzt, wo ich die Methode perfektioniert habe, kann jeder zum Schutz der Kleinen dasselbe tun, was ich getan habe.«
Off-Stimme: Jacobson plant, die genetisch veränderten Organismen, die nach seinen Angaben in Verbindung mit einer normalen UV-Lampe festigend auf Haut und Knochen heranwachsender Kinder wirken, auf den Markt zu bringen.
Jacobson: »Dadurch entsteht – wie soll ich sagen? – eine Art Rinde. Wie die Haut eines Nashorns. Dieses Kind wird sich niemals die Knie aufschürfen oder das Gesicht zerschrammen.«
Off-Stimme: Mitarbeiter der Kinderschutzbehörde sind skeptisch, von Nachbarn ganz zu schweigen, und es ist ein Ermittlungsverfahren eingeleitet
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