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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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fünf Jahre im Leben des epischen Helden eingenommen hatte, wenn Paul sich recht erinnerte –, war entweder ein primitiver, unersättlicher Lustmolch oder hatte nicht viel über die Sache nachgedacht.
    »Ich wäre gern eine Weile allein«, gab er schließlich zur Antwort.
    Ihr entzückender Schmollmund hätte bei einem Mann mit etwas weniger abgestumpftem Geschlechtstrieb einen Herzstillstand auslösen können. »Selbstverständlich, Geliebter. Aber bleibe mir nicht zu lange fern. Ich verzehre mich nach deiner Berührung.«
    Kalypso wandte sich um und glitt wie auf geöltem Glas, ja schwebte förmlich den Strand hinunter. Der Schöpfer dieses Prachtexemplars hatte ihr die langbeinige Figur eines Netzrevue-Hypergirls und die Stimme und Ausstrahlung einer Shakespearedarstellerin gegeben und sie zu der Traumfrau gestylt, die jeden heterosexuellen Mann in alle Ewigkeit glücklich und zufrieden gemacht hätte.
    Paul war gelangweilt und deprimiert.
    Das Quälende daran war, begriff er, daß er … nirgends war. Er war nicht zuhause, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie er zuhause verstand – ein halbwegs anständiger Job, ein paar halbwegs anständige Freunde, ab und zu ein ruhiger Freitagabend allein, an dem er einfach vor dem Wandbildschirm hängen konnte und nicht geistreich tun mußte. Und er machte auch keine Fortschritte darin, dieses Zuhause zu finden oder irgendeines der Rätsel seines derzeitigen Daseins zu lösen.
    Aber da war der letzte Augenblick mit der Vogelfrau gewesen, dieses Aufblitzen eines anderen Lebens. Er hatte einen Namen durch seinen Kopf raunen gehört, beinahe jedenfalls, der jedoch kaum eine Erinnerungsspur hinterlassen und sich mit anderen Namen, die er kannte, vermischt hatte – Vaala, Viola. Aus irgendeinem Grund kam immer wieder Avila nach oben, aber er wußte, daß das nicht stimmen konnte – hieß so nicht eine Heilige, die heilige Teresa von Avila? Sie war, soweit Paul sich erinnern konnte, eine mittelalterliche Hysterikerin gewesen, die als Motiv für eine ansehnliche Zahl von Gemälden und Standbildern gedient hatte. Aber er wußte, daß seine eigene Vision, das Bild des altmodisch gekleideten Mädchens, ihm genauso wichtig war wie der heiligen Teresa die Vision Gottes. Er wußte nur nicht, was sie zu bedeuten hatte.
    Das ferne Schmachten von Kalypsos Lied trieb durch die sandelholzduftende Luft zu ihm herüber. Ein beklemmend zwiespältiges Gefühl von Begehren und Abscheu durchschauerte ihn. Kein Wunder, daß Visionäre wie Teresa sich hinter Klostermauern einschließen mußten. Sex war so … ablenkend.
    Er mußte hier weg, soviel war klar. Er hatte alle Freuden ausgekostet, die Ruhe und virtuelle Gesellschaft schenken konnten, und wenn er wie der wirkliche Odysseus jahrelang auf dieser Insel würde leben müssen, dann wäre er lange vor Ablauf der Frist aufgebraucht wie die Malkreide eines Schulkinds, von hirntot ganz zu schweigen. Aber die Frage war, wie? Sein Stück Holz war zurück ins Meer gespült worden. Es gab kein Boot auf der Insel und auch kein Holz, das nicht zu irgendeinem berückend schönen Baum gehörte. Er konnte vermutlich versuchen, ein Floß zu bauen, aber er war darin vollkommen unbewandert, und hinzu kam, daß die Nymphe Kalypso ihn mit dem eifersüchtigen Besitzerblick einer Katze beobachtete, die eine erjagte Maus bewacht.
    Aber ich muß weiter, erkannte er. Ich habe gesagt, ich würde mich nicht mehr treiben lassen, und ich darf es auch nicht. Ich sterbe, wenn ich es doch tue. Das war bestimmt keine Übertreibung: Auch wenn er nicht buchstäblich tot umfiel, würde ein Teil von ihm, ein ganz entscheidender Teil, mit Sicherheit verkümmern und zugrunde gehen.
    Der Gesang der Nymphe wurde lauter, und trotz seiner Desinteressiertheit und Müdigkeit verspürte er eine gewisse Regung. Lieber jetzt gleich, beschloß er, vielleicht ließ sie ihn dann einmal eine Nacht durchschlafen.
    Widerwillig schlurfte er über den Sand zurück zur Grotte.
     
    Die Morgensonne schimmerte eben erst durch die Zypressenzweige, als etwas Seltsames geschah.
    Paul saß vor dem Höhleneingang auf einem Stein, nachdem er gerade ein weiteres Nektar-und-Ambrosia-Frühstück hinuntergewürgt hatte – er hatte Kalypso in Verdacht, daß sie ihm das Zeug als eine Art Potenzmittel verabreichte –, und überlegte sich, ob er sich dazu aufraffen konnte, die Insel nach Früchten oder sonst etwas zu durchforsten, das wenigstens eine Ähnlichkeit mit normalem Essen hatte, als vor ihm die Luft zu

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