Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
Schreie der Not und Angst und Verlassenheit in tausend verschiedenen Stimmen – Kinderstimmen.
»Ich will dir helfen«, sagte sie laut und so ruhig und bestimmt, wie sie es in dieser Situation fertigbrachte, in der sie am liebsten geschrien und immer weiter geschrien hätte, bis alle Luft aufgebraucht war. Ihre Nervenenden brannten – einen Moment lang meinte sie, den Griff dieser kalten Faust wieder zu spüren, das zermalmende Zentrum der Leere. Geduld, Renie, sagte sie sich. Um Gottes Willen, dräng nicht zu sehr! Doch es war schwer, sich zu bezähmen. Die Zeit selbst drängte, die verzweifelten Schreie der Kinder. Alles drohte ihr zu entgleiten. »Ich will dir helfen«, rief sie erneut. »Wenn du einfach näher herankommst…«
»Kann nicht raus!« schrie das Ding. Renie fiel auf die Knie und hielt sich die Ohren zu, doch die unerträgliche Stimme war in ihr, vibrierte in ihren Knochen und zerfetzte sie. »Kann nicht! Sie leiden! So, so sehr!« Das Ding steigerte sich in eine panische Wut hinein, die alles mit Vernichtung bedrohte. »Ganz böse!«
Die Stimme, jetzt überhaupt nicht mehr wie Stephen, donnerte ihr in den Ohren.
»Böse! Böse! BÖSE!«
Dunkelheit drosch auf sie ein und löschte alles aus.
> Jeremiah stierte auf die Uhr des größten Konsolenbildschirms und wischte sich den Schlaf aus den Augen. 07:42. Morgen. Aber welcher Morgen? Welcher Tag? Es war fast unmöglich, hier in diesem Loch im Berg, Hunderte Meter von der Sonne entfernt, das Zeitgefühl zu behalten. Er hatte es versucht, hatte sich wochenlang eine klare Ordnung im Kopf bewahrt, genau als ob er noch über der Erde wäre und ein geregeltes Leben führte, doch die Ereignisse der letzten Tage hatten alle seine zwanghaften Ordnungsmuster über den Haufen geworfen.
Sonntag morgen, entschied er schließlich. Es muß Sonntag morgen sein.
Noch vor wenigen Monaten hätte er jetzt in seiner sauberen, gut ausgestatteten Küche das Frühstück gerichtet. Dann hätte er den Wagen gewaschen, bevor er und Doktor Van Bleeck zur Kirche gefahren wären. Vergebliche Liebesmüh vielleicht – Susan fuhr so selten aus, daß das Auto es kaum je nötig hatte –, aber es gehörte mit zur Routine. Zu der Zeit hatte er manchmal den Eindruck gehabt, in Routine zu ertrinken. Jetzt kam ihm diese wie die schönste Insel vor, die sich ein Ertrinkender nur vorstellen konnte.
Long Joseph Sulaweyo hätte eigentlich vor den Monitoren sitzen sollen, denn er hatte Aufsichtsdienst. Statt dessen saß der hochgewachsene Mann an der Kante des Laufstegs, ließ die Füße baumeln und starrte ins Leere. Er sah verloren und elend aus, und das nicht nur deswegen, weil er keinen Wein hatte. Jeremiah und Del Ray hatten zuletzt beschlossen, daß sie die Leiche des von Jeremiah getöteten Gangsters am sinnvollsten in einen der unbenutzten, unangeschlossenen V-Tanks legten. Sie hatten alle mit angepackt, nachdem sie ihn in ein Laken eingeschlagen hatten, doch sobald der Deckel zugeschraubt und das Ding luftdicht verschlossen war, war Joseph mißmutig davongestapft.
Dieses eine Mal konnte Jeremiah mit ihm fühlen. Daß sie den V-Tank, der ohnehin wie ein Sarg aussah, tatsächlich als solchen benutzten, mußte Joseph an seine Tochter gemahnen, die unweit davon in einem fast identischen Behälter lag. Sie und ihr Buschmannfreund mochten zwar noch am Leben sein, doch in der jetzigen Situation war der Unterschied zwischen ihnen und dem toten Killer weitgehend theoretisch.
Und mit uns dreien steht’s auch nicht besser, dachte Jeremiah bedrückt. Der einzige Vorteil, den wir gegenüber Josephs Tochter haben, ist der größere Sarg.
Der Gedanke platzte wie eine Seifenblase und verschwand, als Jeremiah einen Blick auf die Monitore warf. »Joseph, was ist los, verdammt nochmal? Solltest du nicht eigentlich hier aufpassen oder was?«
Long Joseph sah ihn mit finsterer Miene an und wandte sich wieder seiner Betrachtung des Laborbodens und der stillen Wannen zu.
»Del Ray!« schrie Jeremiah. »Komm her! Schnell!«
Der jüngere Mann, der gerade dabei war, sich aus den Vorräten ein Frühstück zusammenzukratzen – Jeremiah war mittlerweile sogar zu müde und zu deprimiert, um an den gewohnten Notmahlzeiten festzuhalten –, kam eilig vom unteren Stockwerk herauf.
»Was gibt’s?«
»Schau!« Jeremiah deutete auf den Monitor, der den Eingang zeigte. »Der Laster – er ist weg!« Er drehte sich Joseph zu. »Seit wann ist das?«
»Seit wann is was?« Joseph stemmte sich hoch
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