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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Sie beherrschte sich mühsam und konzentrierte sich aufs Atmen. Sie steckte irgendwie in seinem Innern. Alles um sie herum mußte ein Teil des Andern sein, ein Teil seines Innenlebens, seiner Vorstellungswelt …
    Seines Traumes …?
    Sie erreichte nichts damit, wenn sie das Ding gegen sich aufbrachte. Es war wie ein Kind – wie Stephen in seinen schlimmsten Zeiten, zwei Jahre alt und ein schreiendes Bündel Trotz, für Sprache und Vernunft praktisch unzugänglich. Wie war sie in solchen Situationen mit ihm umgegangen?
    Nicht besonders gut, erinnerte sie sich. Geduld – ich war noch nie so geduldig, wie es nötig gewesen wäre.
    »Was … was bist du?« Sie wartete, doch das Schweigen dauerte an. »Hast du … einen Namen?«
    Das Ding regte sich. Die Schatten wurden länger. Hoch oben schienen die Sterne schwächer und ferner zu werden, als ob das Universum auf einmal seine Ausdehnung beschleunigt hätte.
    Aber das ist nicht das wirkliche Universum, machte sie sich klar. Es ist das Universum im Innern … von diesem Ding. »Hast du einen Namen?« fragte sie noch einmal.
    »Junge«, antwortete es, wobei es wieder Stephens Stimme benutzte, aber mit einem eigenartigen, kieksenden Tonfall. »Verlorener Junge.«
    »So … so soll ich dich nennen?«
    »Junge.« Eine Ewigkeit schien zäh dahinzuschleichen. »Hab … keinen Namen.«
    Etwas an seiner Redeweise drang durch ihr Leid, ihre Angst, sogar durch die Wut über die Entführung ihres Bruders.
    »Du Armer.« Wieder flossen ihr die Augen über. »Was haben sie mit dir gemacht?«
    Das Ding am Grund der Grube wurde noch schlechter zu erkennen. Das Rauschen des Flusses war jetzt laut und vieltönig; Renie meinte, Stimmen darin zu hören. »Wo sind wir?« fragte sie. »Was machst du hier?«
    »Versteck mich.«
    »Vor wem versteckst du dich?«
    Es schien lange überlegen zu müssen. »Vor dem Teufel«, gab es schließlich zur Antwort.
    Renie wußte zwar nicht genau, was das heißen sollte, doch in dem Moment war ihr, als könnte sie seine Gefühle nachempfinden, die hoffnungslose, fassungslose Angst, die Resignation eines mißbrauchten, gepeinigten Wesens.
    Warum ich? ging es ihr durch den Kopf. Warum hat es mich eingelassen? In … dies hier. Weil ich so sehr an Stephen hänge?
    Und noch während sie dies überlegte und ihre Gedanken gewissermaßen eine dünne Haut der Vernunft über dem immer tiefer werdenden Abgrund des Grauens bildeten, verstand sie etwas über das Ding, das mit ihr sprach, verstand es auf eine tiefe, fast instinktive Art.
    Es stirbt. Sein Licht, seine Lebensflamme war am Erlöschen. Nicht nur seine Worte, sondern alles ringsherum, das schwindende Licht, die dünn werdende Luft taten das kund. Eine solche Mattigkeit konnte nur ein Vorzeichen des Todes sein.
    Vielleicht benutzt es Stephen, um mit mir zu sprechen, dachte sie. Wie eine Maske. Aber nicht nur eine Maske. Denk daran, wie es reagiert hat, als ich Papa erwähnte – irgendwie weiß es, was Stephen weiß, ja sogar was ich weiß. Fühlt, was er fühlen würde.
    »Ich denke, du kannst freikommen.« Sie glaubte es selbst nicht ganz, aber sie konnte hier nicht einfach auf den Untergang warten und sich und ihre Freunde und alle Kinder, die dieses Ding verschlungen hatte, der Vernichtung überlassen, die unweigerlich kommen mußte, wenn das Betriebssystem zu funktionieren aufhörte, solange sie alle noch in ihm gefangen waren. »Ich denke, wir können fliehen. Vielleicht können dir meine Freunde sogar helfen, wenn du uns läßt.«
    Das schattenhafte Etwas bewegte sich wieder. »Engel…?« fragte es flehend. Die Stimme hörte sich jetzt nicht mehr so sehr nach Stephen an. »Schläft-nie…?«
    »Sicher.« Sie hatte keine Ahnung, was das heißen sollte, aber sie durfte sich davon nicht irremachen lassen. Ihr fiel ein, wie sie das Steinmädchen weitergetrieben hatte, obwohl es vor Furcht nahezu gelähmt gewesen war. Geduld war das einzige, was helfen konnte. Geduld und die Illusion, daß eine Erwachsene die Sache sicher im Griff hatte. »Wenn du zu mir hochkommst…«
    »Nein.« Das Wort klang müde und endgültig.
    »Aber ich kann dir wahrscheinlich helfen …«
    »Neiiiiiiin!« Diesmal schienen selbst die Wände des Schachtes näher zusammenzurücken, und die Dunkelheit wurde so groß und drückend, daß sie den schrumpfenden Raum zu sprengen drohte. Das Echo hielt unnatürlich lange an und verband sich im Verhallen mit dem Geräusch des Flusses, dessen Zungen jetzt sehr klar zu erkennen waren,

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