Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
was im Kopf abgekriegt.« Ein anderer Ton schlich sich ein. »Ich … ich bin so einsam.«
Renie preßte die Augen zu, um die Tränen zurückzuhalten, doch hatte Angst, Stephen könnte verschwunden sein, wenn sie wieder hinschaute. »Weißt du auch noch die schönen Sachen? Wie du, Eddie und Soki zusammen Soldaten gespielt habt? Und Netsurfer auf Streife?«
»Ja … ham wir …« Stephen klang erschöpft, als ob schon das kurze Gespräch ihn sämtliche Kräfte gekostet hätte. Er murmelte noch etwas Unverständliches, dann verstummte er. Wieder flammte in Renies Brust die Panik auf.
»Komm, du mußt dir jetzt unbedingt einen Ruck geben«, sagte sie. »Okay? Stephen, hör mir zu. Du mußt jetzt aufstehen. Komm einfach hoch. Schaffst du das?«
Er blieb zusammengesunken sitzen, den Kopf auf der Brust.
»Stephen!« Diesmal klang ihre Angst deutlich durch. »Stephen, sprich mit mir! Verdammt, Stephen, hör auf, mich so anzuschweigen!« Sie eilte an den tiefsten Punkt des Pfades zurück und beugte sich so weit vor, daß ihr Gewicht sie beinahe über die Kante gezogen hätte. »Stephen! Ich rede mit dir. Ich will, daß du aufstehst. Hörst du mich?« Er hatte schon eine halbe Minute nicht mehr reagiert. »Stephen Sulaweyo! Reiß dich zusammen! Sonst werde ich echt böse!«
»Nicht schimpfen!« Sein plötzlicher Schrei war laut wie ein Donnerschlag. Er wurde von den Wänden ihres Gefängnisses zurückgeworfen und zerbrach in viele Echos. »Schimpfen … impfen … pfen … en …«
Renie klammerte sich am Felsrand fest. Vor Schreck über seinen Ausbruch hätte sie beinahe das Gleichgewicht verloren. »Stephen, was …?«
»›Ein hundsbrutaler Hammer ist das‹, sagte Scoop.«
Renie fühlte, wie ihr Herz aussetzte. Das war aus der Folge von Netsurfer auf Streife, die sie ihm im Krankenhaus vorgelesen hatte – aber das war es nicht, was ihr den Atem verschlug.
»Er ließ sein hologestreiftes Pad in der Luft schweben und drehte sich zu seinem aufgeregten Freund um. ›Da muß ein Megastunk im Gange sein – späcig hoch zwei!‹…«
Dunkelheit legte sich um sie wie ein immer enger werdender Kreis. Ihr wurde schwindlig und übel.
Stephen sprach in ihrer eigenen Stimme mit ihr.
»Was … was machst du …?«
»Mir reicht’s, du Bengel!« Das war jetzt Long Josephs gereizter Ton, in jeder Hinsicht perfekt, wie aufgenommen und abgespielt. »Ich hab die Nase voll von deinem Quatsch. Du machst das jetzt, oder ich wichs dir die Haut vom Hintern! Verdammt, wenn ich nochmal deinetwegen hoch muß, knall ich dir eine, daß du das Gesicht auf’m Rücken hast…!«
Am schlimmsten war, daß Stephen mit seiner eigenen Stimme lachte, während er gleichzeitig mit der seines Vaters sprach.
»Laß das!« Renie schrie jetzt ebenfalls. »Hör auf damit! Sei einfach Stephen!«
»Aber warum in Gottes Namen sollten irgendwelche Leute ein derartiges Sicherheitssystem haben?« Zu Renies Entsetzen war es auf einmal Doktor Susan Van Bleecks Stimme, die von unten heraufhallte, ihr scharfer, bohrender Ton, aber immer noch lachte Stephen mit einer überschnappenden Lustigkeit, die jeden Moment in Verzweiflung umzukippen drohte. »Was um alles in der Welt könnten sie schützen wollen?« Susan, eine Frau, die Stephen niemals kennengelernt hatte, und zu einem Zeitpunkt, als er bereits im Koma gelegen hatte. Susan Van Bleeck, die tot war. »Hast du dich mit Verbrechern eingelassen, Irene?«
Sie hatte das Gefühl, es nicht mehr auszuhalten, vom Grauen erdrückt zu werden. Doch mit einemmal verstand sie, und ihre Furcht verringerte sich ein wenig. Sie sorgte sich jetzt um ihre eigene Sicherheit, doch gleichzeitig kam anstelle der Furcht eine überwältigende Trostlosigkeit.
»Du … du bist gar nicht Stephen, nicht wahr?« Schlagartig brachen die Stimmen ab. »Du warst von Anfang an nicht Stephen.«
Das Ding, das wie ihr Bruder aussah, blieb weiter geduckt und in Schatten gehüllt am Fluß sitzen.
»Was hast du mit ihm gemacht?«
Es reagierte nicht, aber wurde noch undeutlicher, als würde es nach und nach mit dem Felsboden verschmelzen. Eine erwartungsvolle Stille lud die Luft auf, die knisternde Spannung vor einem Gewitter. Renie bekam eine kribbelnde Gänsehaut, und auf einmal schien der Sauerstoff für ihre Lungen nicht auszureichen.
Abermals stieg Zorn in ihr auf, eine blinde Wut darüber, daß dieses bizarre Ding, dieses Konglomerat von Code sich als ihr Bruder ausgab, dasselbe unmenschliche Ding, das ihn ihr weggenommen hatte.
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