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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Furcht in eine Art Katatonie verfallen, wenn sie ihm widersprach? Durfte sie das riskieren? »Nein, ich bin nicht deine Mutter. Mama ist jetzt nicht hier, aber ich bin’s. Ich versuche schon … ganz lange, dich zu finden. Stephen, wir müssen hier raus. Gibt es eine Stelle, wo du hochklettern kannst?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er traurig. »Gibt’s nicht. Ich kann nicht klettern. Ich bin verletzt.«
    Langsam, ermahnte sie ihr jagendes Herz. Langsam. Du kannst ihm nicht helfen, wenn du in Panik gerätst. »Was ist verletzt, Stephen? Red doch!«
    »Alles. Ich will heim. Ich will meine Mutter haben.«
    »Ich tue alles, was …«
    »Jetzt!« kreischte er. Er drosch mit den Armen um sich, schlug sich auf den Kopf. »Sofort!«
    »Stephen, nicht!« schrie sie. »Es ist gut. Alles ist gut. Ich bin jetzt hier. Du bist nicht mehr allein.«
    »Immer allein«, versetzte er bitter. »Bloß Stimmen. Täuschungen. Lügen.«
    »Lieber Gott.« Renie hatte das Gefühl, an ihrem bis in die Kehle schlagenden Herzen zu ersticken. »O Stephen. Ich bin keine Täuschung. Ich bin’s, Renie.«
    Er sagte lange nichts, und seine winzige Gestalt war von den Felsbuckeln am Grund der Grube kaum zu unterscheiden. Der Fluß murmelte vor sich hin.
    »Du bist mit mir zum Ozean gefahren«, sagte er schließlich mit ruhigerer Stimme. »Da waren Vögel. Ich hab … ihnen was zugeworfen. Sie ham’s in der Luft geschnappt.« Es lag fast etwas wie Verwunderung in der Stimme, als ob ihm gerade eine Erinnerung geschenkt worden wäre.
    »Brot. Du hast Brotbröckchen geworfen. Die Möwen haben sich drum gestritten – weißt du noch? Du hast lachen müssen.« Margate, erinnerte sie sich. Wie alt war er da gewesen? Sechs? Sieben? »Erinnerst du dich an den Mann, der Musik gemacht hat, den mit dem Hund? Und der Hund hat getanzt.«
    »Lustig.« Er sagte es, als könnte er es nicht recht empfinden. »Lustiger kleiner Hund. Mit’nem Kleid an. Du hast gelacht.«
    »Du hast auch gelacht. Ach, Stephen, erinnerst du dich auch an die andern Dinge? An dein Zimmer? Unsere Wohnung? Papa?« Sie sah, wie er steif wurde, und verwünschte sich im stillen.
    »Schimpft. Immer schimpft er. Groß. Laut.«
    »Halb so wild, Stephen, er …«
    »Schimpft! Böse!«
    Über die Sterne oben zog eine dunkle Welle, so daß es in der großen Höhle einen Moment lang ganz finster wurde und Renies Herz erneut heftig pochte. Sie wagte nicht zu atmen, bis sie Stephens kleine, zusammengekauerte Gestalt wieder sehen konnte.
    »Es stimmt, manchmal schimpft er«, räumte sie ein. »Aber er hat dich lieb, Stephen.«
    »Nein.«
    »Doch. Und ich auch. Das weißt du, nicht wahr? Wie sehr ich dich lieb habe?« Ihre Stimme brach. Es war furchtbar, ihm so nahe und doch von ihm getrennt zu sein. Wie gern hätte sie ihn in die Arme genommen und gedrückt und geküßt, ihn ganz fest an sich gezogen und seine drahtigen Locken gefühlt, seinen Jungengeruch eingesogen. Konnte eine leibliche Mutter mehr empfinden?
    Die Erinnerung an seinen Vater schien abermals ein trotziges Schweigen bei dem Jungen ausgelöst zu haben.
    »Stephen? Sag doch was, Stephen!« Nur der murmelnde Fluß gab Antwort. »Hör doch auf damit! Wir müssen einen Weg hier raus finden. Wir müssen dich wegschaffen. Aber ich kann nichts machen, wenn du nicht mit mir redest.«
    »Kann nicht raus.« Die Stimme wurde so leise, daß Renie kaum mehr etwas verstand. »Lügen. Bin verletzt.«
    »Wer hat dich verletzt, Stephen?«
    »Alle. Niemand ist gekommen.«
    »Ich bin jetzt hier. Ich hab dich ganz lange gesucht. Willst du nicht wenigstens mal schauen, ob du eine Stelle zum Hochklettern findest?« Sie krabbelte auf dem Pfad zurück. Vielleicht kam sie ja irgendwo weiter oben an der steilen Felswand herunter. »Erzähl mir noch ein paar Sachen, an die du dich erinnerst«, rief sie. »Was ist mit deinen Freunden? Erinnerst du dich an deine Freunde? Eddie und Soki?«
    Er hob den Kopf. »Soki. Er … er hat was im Kopf abgekriegt.«
    Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Meinte er Sokis epileptische Anfälle, die Renie seinerzeit mit ihrer Befragung ausgelöst zu haben schien? Wieviel wußte Stephen darüber? Konnten in ihm Erinnerungen an den ersten Besuch der Jungen in diesem gräßlichen Nachtclub vergraben sein, Mister J’s? »Ja, Soki hat was im Kopf abgekriegt«, sagte sie zögernd, gespannt, was als nächstes kommen würde.
    »Er hatte zuviel Angst«, sagte Stephen leise. »Er ist … zurückgeschreckt. Und dabei hat er

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