P. S. Ich töte dich
spürte, wie das Blut aus meinem Kopf wich. Panisch irrte mein Blick durch den Raum. Was ging hier vor sich? Ich taumelte zur Seite, spürte unvermittelt ein Hindernis, stolperte rückwärts über einen Hocker und fiel zu Boden.
»Steh auf! Sieh mich an!«
Ohne mich umzudrehen, kroch ich weiter auf die Tür zu, zog mich am Griff hoch und wankte in den Nebenraum, kaum mehr fähig zu stehen.
»Bleib hier! Du kannst nicht fliehen.«
Ich torkelte weiter, doch ich wusste, dass die Stimme recht hatte: Ich konnte nicht fortlaufen, ich musste mich ihm stellen; es war der einzige Weg, der mir noch blieb. Schwankend blieb ich stehen, die Hand auf die Rückenlehne des Sessels gestützt, an dem ich mich festgehalten hatte. Langsam drehte ich mich um.
Der Raum war leer.
Ich räusperte mich. »Wo bist du?«
»Komm hierher, zum Vorhang links von dir.«
Ein schwerer Samtvorhang hing dort an der Wand. Ich ging langsam auf ihn zu und schob ihn zur Seite.
Im gleichen Moment sah ich ihn: Die Hand erhoben, stand er vor mir, eine groteske Gestalt mit verzerrtem Gesicht und weit aufgerissenen Augen. Ich schrie auf, wich zurück, doch dann, mit der Kraft der Verzweiflung, stürzte ich vor und griff den Fremden an. Schmerz durchzuckte mich, als wir aufeinanderprallten. Auch er griff mich an, auch er schrie, synchron zu mir, als wäre er mein Zwillingsbruder.
Ein Schlag ertönte, dann klirrten Scherben, das Bild des anderen zersprang und stürzte gemeinsam mit mir zu Boden. Und noch während ich fiel, begriff ich, und das Wissen um die Wahrheit öffnete in mir einen Abgrund, der mich verschlang.
Früh am nächsten Tag, die Sonne schob sich gerade über die Kante der Hügelkette, wurde die Tür der Polizeiwache am Marktplatz aufgezogen. Ein groß gewachsener, elegant gekleideter Mann mittleren Alters betrat den Raum, ein freundliches Lächeln auf seinen Lippen. »Guten Morgen, die Herren.« Sorgfältig klopfte der Mann seinen schneebedeckten Mantel ab und trat an den Tresen.
Die beiden Polizisten, müde von der langen Nachtschicht, sahen sich stumm an. Der Mann ließ sich von ihrem Schweigen nicht irritieren. »Ich wollte mich nur erkundigen«, sagte er und schlug kurz die Augen nieder, »ob ich gestern Nacht wieder hier gewesen bin.«
Die Polizisten nickten.
»Und Sie sind mit mir hinauf zu meinem Haus gegangen? Und Sie haben so wie immer keine Leiche gefunden …?« Er lächelte verkniffen, als die beiden Polizisten erneut nickten, dann griff er, um Entschuldigung bittend, in seine Tasche und holte sein Portemonnaie hervor. »Es tut mir wirklich leid. Ich hatte zu viel getrunken.« Er schob einen großen Geldschein über den Tresen. »Für Ihre Umstände.«
Einer der beiden Polizisten stand auf und griff nach dem Schein, um ihn in eine bereitstehende Kaffeekasse zu stopfen. »Das muss aufhören«, sagte er und sah den Mann mahnend an.
Der Angesprochene nickte, und ein Schatten lief über sein Gesicht. »Ja. Das muss aufhören.« Er lächelte wieder, steckte das Portemonnaie zurück und knöpfte seinen Mantel zu.
»Was haben Sie mit Ihrer Hand gemacht?« Der zweite Polizist wies auf den Verband, der die rechte Hand des Mannes bedeckte.
Der Mann sah an sich herab, so als ob er den Verband noch nicht bemerkt hätte. »Das?« Er winkte ab. »Nichts Besonderes. Eine kleine Verletzung. Ich bin in einen Spiegel gelaufen.«
Der Polizist lächelte. »Passen Sie auf sich auf. Nicht, dass noch was passiert.«
Der Mann lächelte zurück. »Keine Sorge. Was soll schon passieren? Einen schönen Tag noch! Oder besser: einen schönen Feierabend.«
Ein letztes Mal nickte der Mann den beiden Polizisten zu, dann verließ er die Wache und ging quer über den Marktplatz davon.
Als einer der beiden Polizeibeamten wenig später nach Hause fuhr, sah er in der Ferne eine einsame Gestalt durch den Schnee stapfen. Es war der Mann, er ging auf der Straße den Hügel hinauf, dem Herrenhaus entgegen.
Biographisches und Graphologisches
Petra Busch – geboren 1967 in Meersburg – studierte Mathematik, Informatik, Literaturgeschichte und Musikwissenschaften – promovierte in Mediävistik – arbeitet als freie Texterin, Journalistin und Autorin – mehrfach ausgezeichnet für verschiedene Arbeiten – 2010 erfolgreicher Debütroman
Schweig still, mein Kind
. Petra Busch lebt mit ihrem Mann in Ettlingen.
Die leicht kalligraphisch anmutende Schrift mit herausfallender Anfangsbetonung steht wie ein Kunstwerk im Raum. Petra Busch
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