Pain - Bitter sollst du buessen
immer. Und in deiner Sendung verwandelt sich das ganze Studio in einen Hightech-Beichtstuhl. Schon der Name deiner Sendung, Schätzchen … ›Mitternachtsbeichte‹ … Sagt das nicht alles?« Sie drückte eine Taste und betrachtete ihre glänzenden rosafarbenen Fingernägel. » WSLJ , New Orleans’ Zentrum von Jazz und Radio-Talk. Mit wem darf ich Sie verbinden?«
»Kümmer dich nicht um sie«, sagte Tiny. »Du weißt doch, sie hat immer Hummeln im Hintern. Aber sie liebt dich.«
»Es ist schön, geliebt zu werden«, murmelte Sam, noch immer in Gedanken über Melbas Ausführungen. Vielleicht war sie nur nervös und vermutete überall versteckte Bedeutungen. Sie hatte nicht genug Schlaf bekommen, ihr Bein hatte geschmerzt, und in ihrem Kopf waren die Gedanken an die verflixte Nachricht auf dem Anrufbeantworter und das verhunzte Foto gekreist. Und bisher war der Tag äußerst nervenaufreibend gewesen. Zuerst hatte sie sich mit der Polizei von Cambrai herumgeschlagen, hatte mit einem Beamten telefoniert und dann auf sein Kommen gewartet. Er hatte ihr versichert, seine Kollegen würden jetzt häufiger in dieser Wohngegend Patrouille fahren, und hatte die Kassette des Anrufbeantworters, den Umschlag und das Foto mitgenommen. Später, immer noch nervös, hatte sie die Kreditinstitute angerufen, um sicherzugehen, dass tatsächlich alle Kreditkarten mittlerweile gesperrt waren. Mit einigen Schwierigkeiten hatte sie sich auf den Weg zur Verkehrsbehörde gemacht, um sich einen neuen Führerschein zu besorgen, dann zum Schlüsseldienst mit dem Auftrag, in ihrem Haus sämtliche Schlösser auszutauschen und einen Ersatzschlüssel für ihr Auto anzufertigen. Schließlich war sie noch zu ihrer Versicherung gefahren und hatte dort fast eine Stunde lang in der Schlange stehen müssen, um eine neue Versichertenkarte zu beantragen. Ihre rezeptpflichtige Sonnenbrille hatte sie noch nicht ersetzen können, doch das war der letzte Punkt auf ihrer Liste, und eine Zeit lang würde sie auch mit Kontaktlinsen und gewöhnlicher Sonnenbrille auskommen.
»… Ich gebe die Information an Mr. Hannah weiter«, sagte Melba nun, beendete ihr Gespräch und kritzelte eine Notiz auf einen Zettel. »Warum wir hier keine Mailbox haben, ist mir unbegreiflich. Als lebten wir noch im Mittelalter oder so.« Sie warf einen Blick zu Tiny hinüber. »Du bist doch das Computergenie. Kannst du uns nicht so was einrichten?«
»Würde ich ja, aber das verdammte Budget gibt es nicht her.«
»Ja, ja, immer ist es das Budget, die Quote, der Marktanteil.« Melba verdrehte die ausdrucksvollen Augen. Ihr lockiges Haar glänzte unter den Neonröhren, die im Empfangsbereich für die Beleuchtung sorgten. »Nun, ich gebe es äußerst ungern zu«, wandte sie sich an Sam, »aber dem Stapel von Fanpost in deinem Fach nach zu urteilen könnte man meinen, die Leute hätten dich vermisst.«
»Das überrascht mich.«
Wieder klingelte das Telefon und beanspruchte Melbas Aufmerksamkeit. Tiny begleitete Sam durch den Hauptgang, liebevoll als »die Aorta« bezeichnet. Das Gebäude war ein richtiger Kaninchenbau, ein Labyrinth von Büros und willkürlich miteinander verbundenen Fluren, denn man hatte das alte Haus, in dem WSLJ und seine Schwestersender untergebracht waren, in den vergangenen zweihundert Jahren immer und immer wieder umgebaut. Die unzähligen Ecken und Winkel waren jetzt in Abstellkammern, Studios, Büros und Konferenzzimmer integriert.
»Schau dir auch deine E-Mails an«, mahnte Tiny und blieb vor der Tür zu seinem Büro stehen, einem kleinen Raum, der vormals ein begehbarer Schrank inmitten der Büros gewesen war. Darin standen ein einsamer Schreibtischstuhl, ein einfacher Tisch und darauf ein Laptop. Tinys einzige Konzession an Raumgestaltung war ein großes Poster, auf dem ein Alligator abgebildet war und das er, wie Sam aufgrund der zahlreichen Einstiche rund um die Schnauze des Tieres feststellte, als Dartsscheibe benutzte. Wo er seine Pfeile versteckte, war ein Geheimnis, das bisher niemand der Mitarbeiter im Funkhaus hatte lüften können.
Offenbar wusste Tiny zu jeder Zeit, was im Hause vor sich ging. Er war Student der Kommunikationswissenschaften in Loyola, entwarf und wartete die Website des Rundfunksenders und hatte sich als wahrer Zauberer in Sachen Computerprobleme erwiesen. In Sams Augen war Tiny unersetzlich, wenn auch ein bisschen abgehoben vom Rest der Welt. Er war ein schlaksiger Bursche, ein typischer Computerfreak, der dringend eine
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