Pain - Bitter sollst du buessen
Stimme war weiterhin deutlich zu vernehmen.
»Mir fällt schon was ein … Ja, bald. Du liebe Zeit, jetzt krieg nicht gleich einen Herzinfarkt. Beruhige dich … Ich verstehe.«
Sam bog vorsichtig um zwei Ecken und betrat den Flur, der zu den verglasten Studios und Aufnahmeräumen führte. Sie schaute durch ein Fenster und sah Gator, noch immer übers Mikrofon gebeugt, mit den Tonbändern sprechen, als ob er tatsächlich Hörer vor sich hätte, die allesamt seine engsten Freunde waren. Er würde dieses Tonband in sein reguläres Programm hineinschneiden. Auf Sendung war seine Stimme sanft und gedehnt, einladend, der nette Junge von nebenan. Privat war er entschieden geistreicher und lebhafter. Sam winkte, Gator nickte ihr flüchtig zu, und sie ging weiter an mehreren Studios, der Redaktion und der Bibliothek vorüber, bis sie schließlich im Gemeinschaftsbüro angelangt war, das sie mit den anderen Moderatoren teilte. Ihr Fach quoll tatsächlich über vor Briefen. In Gedanken an das abscheuliche Foto prüfte sie sämtliche Umschläge mit großer Sorgfalt. Sie sagte sich, dass das unangenehme Prickeln, das ihr über den Rücken lief, völlig fehl am Platz sei, und schlitzte dann Umschlag für Umschlag auf und überflog den Inhalt.
Sie fand nichts Außergewöhnliches. Kein Schreiben war auch nur annähernd verdächtig.
Angebote, auf Wohltätigkeitsveranstaltungen zu sprechen oder als Gastgeberin zu fungieren, Genesungswünsche von Hörern, die von ihrem Unfall erfahren hatten, Werbung, Kreditkarten-Angebote … nichts Beunruhigendes. Sie beschloss, den Brief und den Drohanruf den Kollegen im Sender gegenüber nicht zu erwähnen, aber sie würde sich noch einmal bei der Polizei nach deren Ergebnissen erkundigen. Der Brief und die Stimme auf ihrem Anrufbeantworter waren vermutlich nur Streiche. Von irgendeinem Typen, der sich auf ihre Kosten einen runterholte.
Und was ist mit den Schritten auf der Veranda?
Was ist mit Charons sonderbarer Reaktion?
Was ist mit diesem Gefühl, das dich gestern Nacht beschlichen hat, diesem Gefühl, dass unsichtbare Augen dich bei allem beobachten, was du tust?
Sie biss die Zähne zusammen und ermahnte sich wohl zum hundertsten Mal, sich nicht von ein paar boshaften Dummejungenstreichen einschüchtern zu lassen. Sie hatte schließlich auch früher schon mit anonymen Anrufen zu tun gehabt. Wenn sie die Alarmanlage überprüfen ließ und darauf achtete, dass die Polizei von Cambrai zu ihrem Wort stand und die Patrouillen in ihrem Bezirk verstärkte, würde ihr nichts passieren.
Oder?
Ein paar Stunden später – der Großteil der Belegschaft hatte inzwischen Feierabend gemacht – warf Sam gerade Abfall in den Mülleimer, da hörte sie das Klicken hoher Absätze. Sie drehte sich um und sah Melanie in den Raum fegen. Ihr Haar war vom Wind zerzaust, die Wangen rosig von der Hitze des Sommerabends.
»Willkommen daheim«, begrüßte Melanie sie lächelnd. Im Alter von gerade mal fünfundzwanzig Jahren hatte Melanie als Jahrgangsbeste ihren Abschluss am All Saints gemacht, einem kleinen College in Baton Rouge. Ihr Hauptfach war Kommunikationswissenschaften gewesen, das Nebenfach Psychologie. Sie hatte im College-eigenen Rundfunk mitgearbeitet, dann einen Job in Baton Rouge gefunden und schließlich kurz nach Sams Einstieg die Stelle bei WSLJ angenommen. Melanie war wie Sam eine von Eleanors Entdeckungen.
»Danke.«
»Ich gehe runter zum Laden an der Ecke und hole Kaffee und irgendwas total Kalorienreiches … vielleicht Schmalzgebäck mit einem Berg Puderzucker. Möchtest du auch?«
»Die Versuchung ist groß, aber ich glaube, ich verzichte lieber.« Sam legte die Post beiseite und stieß sich mit ihrem Stuhl von dem langen Tresen ab, der als Schreibtisch diente. »Und noch einmal vielen Dank dafür, dass du auf den Kater aufgepasst und für Kaffee und Milch gesorgt hast. Du hast mir das Leben gerettet.«
Melanie strahlte angesichts des Kompliments – in mancher Hinsicht war sie noch ein Kind. »Erinnere dich bitte daran, wenn der Zeitpunkt für meine Revision und die Gehaltserhöhung gekommen ist, ja?«
»Oh, verstehe. Du hast mich bestochen.«
»Ganz genau!« Melanie stand in der Tür, je eine Hand in den Türrahmen gestützt. In dem beinahe durchsichtigen violetten Kleidchen und dem dünnen schwarzen Cape, in Schuhen mit Plateau-Absatz und frisch geschminkt sah sie aus, als wollte sie die Stadt unsicher machen, statt zur Arbeit zu gehen.
»Hast du ein heißes
Weitere Kostenlose Bücher