Pakt der Könige
Rücken und Hinterteilen beinahe erdrückt worden. Sie hatte sich an Taschen und Schwertscheiden die Haut aufgeschürft und schon zweimal beinahe das Gleichgewicht verloren. Wenn sie hinfiel, würde sie sterben. Hunderte, nein, Tausende von Sandalen würden über sie hinwegtrampeln, ihr die Knochen brechen, ihr Fleisch zu blutigem Brei treten. Sie würde nicht wieder aufstehen.
Aber ihr Herr war nicht weit weg. Nur noch einige Schritte von ihr entfernt, mitten auf dem Platz. Sie musste zu ihm. Sie musste ihm die Botschaft überbringen …
Plötzlich herrschte um sie herum Schweigen. Die kleine
Sklavin versuchte, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, um zu sehen, was vorging, aber das Meer aus Menschen war zu dicht. Sie drängte weiter voran und nutzte die relative Ruhe aus, um zwischen zwei verschleierten Körpern hindurchzuschlüpfen und dann um einen Karren herumzugehen, auf dem etwa dreißig Jugendliche hockten.
»Volk von Salmyra!«, sagte eine Stimme, die sie nicht kannte. »Ihr habt heute Morgen gehört, wie die Shi-Âr verkündet haben, dass dieses Geschöpf verhaftet worden ist: die verfluchte Sklavin, die sich für so viele Jahre als Königin von Harabec ausgegeben hat …«
Eine Welle von Buhrufen durchlief in einer Aufwallung von Hass die Menge, und die Kleine hatte gerade noch Zeit, unter den Karren zu schlüpfen, bevor sie gegen das Holz gequetscht werden konnte.
»Es widerspricht allen göttlichen Gesetzen, dass diese Frau …«
Da sie auf allen vieren kroch, um auf die andere Seite zu gelangen, hörte das Mädchen das Folgende nicht. Als sie zwischen den Hinterrädern wieder hervorkam, war die Menge erneut still, und die Stadtbewohner lauschten angespannt der Stimme vom Himmel, die ihnen vom Bösen erzählte, das das Land verseucht hätte, dem Bösen, das die Frau, die verhaftet worden war, gleichzeitig symbolisierte und verursacht hatte, von einer so großen Lästerung der Götter, dass die Geschöpfe der Abgründe aus ihrem langen Schlummer erwacht waren. Dann sprach er mit ernster Stimme von Reinheit und Schönheit und brachte das Herz des Kindes fast zum Vibrieren, obwohl es ihn kaum verstand, bevor er in einem grandiosen Höhenflug zum Schluss kam und das Glück schilderte, das es bedeutete, den Göttern ein gewaltiges Opfer darzubringen. Das Wort
»Türkisvolk« kam mehr als dreimal vor, aber obwohl die Kleine wahrnahm, wie melodiös die Sätze waren, verstand sie den Sinn nicht. Sie hatte es sich angewöhnt, nicht genau zuzuhören, wenn die Freien von ihr und den ihren sprachen. Das war zu schmerzlich und kompliziert und weckte in ihr unverständliche, heftige Gefühle. Nein, es war besser, gar nicht zuzuhören.
Die Stimme sprach noch immer, als sie ihn endlich sah: ihren Herrn, umgeben von vier Soldaten, die eine kleine Insel in der Menge bildeten. Sie schlüpfte zwischen zwei Gruppen von Menschen hindurch und lief auf ihn zu.
Kapitel 16
Drei Kaufleute, ihre Frauen und ihre Leibwächter beschützten Lionor vor den Bewegungen der Menge. Sie wandte den Kopf nach links und bemerkte Arekh. Sie war noch nicht einmal überrascht. Den ganzen Nachmittag hatte sie ihn vergeblich gesucht, und nun, da es zu spät war, stand er einfach da, weniger als fünf Fuß von ihr entfernt. Nein, das wunderte sie nicht.
Sie zögerte, ihm ein Zeichen zu geben, aber selbst, wenn sie nach ihm gerufen hätte, hätte er sie wohl nicht gesehen. Sein Blick war starr auf Marikani gerichtet, die sehr aufrecht dort oben auf der Terrasse stand; ihre dunklen Augen funkelten vor Verachtung. Arekh war bleich. Nein, »bleich« war nicht das richtige Wort, wie Lionor begriff. Er war aschfahl. Die Nâlas neben ihm lauschten fasziniert Laosimbas Rede.
Das Sklavenopfer. Die Sonne auf Marikanis Gesicht. Große Kälte durchströmte Lionor, und sie verlor beinahe das Gleichgewicht. Sie fing sich wieder. Sie durfte jetzt nicht schwach werden. Sie musste … Sie sollte … Es gab nichts, was sie hätte tun können.
Niemand konnte etwas tun.
Sie hatte einige Sätze des Schauspiels verpasst; daher
überrumpelte Harrakins Erscheinen auf der Terrasse sie. Sicher hatte er im Innern des Gebäudes auf seinen Auftritt gewartet.
»… der neue König von Harabec!«, verkündete Laosimba.
Harrakin trat an die Balustrade der Terrasse heran und musterte die Menge. Er wurde mit donnerndem Applaus, Hochrufen und Jubelgeschrei begrüßt. In diesem religiösen Theaterstück, in dem die Rollen der Verräterin und des Richters schon besetzt
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