Pakt der Könige
Marmoraltar des Großen Tempels von Reynes.
Etwas weiter unten am Hang beobachtete Arekh hinter einem großen Felsklotz verborgen die Umgebung; Non’iama war bei ihm. Dies war nicht der richtige Moment, einer Patrouille in die Hände zu fallen, und außerdem wollte er nicht, dass das Kind das Schauspiel mit ansah. Wenn sie weiterreisten, würde er dem kleinen Mädchen andere Kleider geben, die Haare färben und Fußkettchen anlegen, um die Narben zu verdecken, die die Eisenringe hinterlassen hatten. Nach dieser Nacht durfte kein Kind, das älter als fünf Jahre war, mehr blonde Haare haben. Was die blauen Augen betraf, konnte er nichts tun, aber manche freie Menschen hatten schließlich auch helle Augen, und obwohl sie dafür schief angesehen wurden, bedeutete die Augenfarbe allein noch kein Todesurteil. Sobald das Ritual vorüber war, würden Marikani, Non’iama und er nach Südosten aufbrechen, beschloss Arekh. In den Ebenen würde sich ihre Spur verlieren; sie würden irgendeinen entlegenen Ort finden und …
Orangefarbenes Licht erhellte die Felsen genau neben ihm.
Non’iama schrie auf, und plötzlich stürzte sich ein schwarzer Schatten, von dem ein übler, durchdringender Geruch ausging, auf Arekh. Er wollte sich losmachen, war aber völlig überrumpelt. Etwas Kaltes, Schleimiges schlang sich um seinen Hals, und er bekam keine Luft mehr, während ihm dunkle Sterne vor den Augen tanzten und er spürte, wie der Tod nahte, ein düsterer, verzweifelter, fürchterlicher Tod …
Plötzlich lockerte sich der Schraubstock, und das Ding, das ihn angegriffen hatte, sackte schwer zu Boden. Arekh kam auf die Beine und sah Marikani mit dem Dolch in der Hand dastehen. Ein Blutfleck breitete sich auf dem Umhang mitten auf dem Rücken der Kreatur aus.
Blut. Ein Umhang. Ein Rücken.
Während Non’iama sich umsah, um sicherzugehen, dass niemand auf den Kampf aufmerksam geworden war, trat Arekh langsam an Marikanis Seite und betrachtete gemeinsam mit ihr die »Kreatur«.
Es war ein schwarzgekleideter Mann, der einen weiten Umhang mit Kapuze und eine schwarze Maske mit Augenlöchern trug. Lange, schwarze Handschuhe aus Schlangenleder schmückten seine Hände, und ein blutroter Schal schützte seinen Hals. Marikani ordnete ihre Erinnerungen: Die rot glühenden Augen konnten einer Laterne zu verdanken sein, die hinter die Maske gehalten wurde, das orangefarbene Leuchten Fackeln, die rhythmische Musik Trommeln.
Sie holte kurz Luft, beugte sich über den Mann und riss ihm mit einer heftigen Bewegung die Maske ab.
Er hatte dunkle Haut und feine Gesichtszüge, langes, glänzendes schwarzes Haar und eine Narbe auf der Wange.
»Ein Sakâs. Das ist ein Vahar-Stamm aus dem Norden«, sagte Arekh und wies auf das linke Ohr, dessen Läppchen abgetrennt war. »Sie schneiden sich ein Stück des Ohrs ab, wenn sie das Erwachsenenalter erreichen.«
Marikani drehte den Leichnam mit dem Fuß um. »Banh hat mir, glaube ich, einmal vom Anführer der Sakâs erzählt«, sagte sie. »Er soll ein junger, ehrgeiziger Kriegerkönig sein, den seine Nachbarn für gefährlich halten.«
»Warum … warum verkleiden sie sich als Monster?«, fragte Non’iama, die näher gekommen war.
Arekh zuckte mit den Schultern. »Um zu erobern, um ihren Feinden Entsetzen einzuflößen. Sich das Aussehen der Kreaturen zu geben und die Rune der Vernichtung zu kopieren, ist ein kluger Schachzug. Die Sakâs haben einen der größten Kriege losgetreten, die es in den Königreichen jemals gegeben hat, und die Hälfte des Nordens gehört ihnen schon jetzt.«
»Und er? Was hat er hier gemacht?«, fragte die Kleine, die noch immer nicht verstand.
»Das werden wir bald wissen. Er hat sich vielleicht von den anderen entfernt …«
»Ich habe keine Angst mehr«, sagte Marikani.
Arekh und Non’iama starrten sie erstaunt an. Arekh hatte sie wohl noch nie so entschlossen erlebt. »Was?«, fragte er leise.
»Seht Euch das an«, sagte sie und versetzte dem Leichnam einen Tritt. »Ängste sind wie die Kreaturen. Es reicht, dass man ihnen entgegentritt, damit man begreift, wie erbärmlich sie sind. Ich gehe jetzt dort hinüber, Arekh.«
Sie hob die Hand und deutete auf den Altar. »Mein Platz ist an ihrer Seite.«
»Nein!« Arekh sprang auf sie zu und packte sie an der Schulter.
Marikani beugte sich zu ihm und küsste ihn sacht, machte sich dann aber los. »Mein Platz ist an ihrer Seite«, wiederholte sie. »Ich habe keine Angst. Was können sie mir schon
Weitere Kostenlose Bücher