Palast der Stürme
gestorben«, flüsterte sie. »In Delhi. Er wird nicht mehr zurückkommen.«
So, nun hatte sie es gesagt. Kurz darauf entdeckte sie Sera und Govind Hand in Hand auf das Haus zukommen. India strampelte auf ihrem Arm und trat Roxane vor Aufregung gegen den Oberschenkel.
Und jetzt kann es nur besser werden, sagte sie zu der Stelle in ihrem Körper, die immer noch schmerzte.
In dieser Nacht, nachdem alle eingeschlafen waren, nahm Roxane Colliers Briefe aus der Schachtel. Sie breitete sie im Kerzenlicht nebeneinander auf der Steppdecke ihres Betts aus und versuchte, sie chronologisch zu sortieren. Irgendwann waren sie bereits geordnet gewesen, aber sie hatte sie so oft hin und her geschoben, dass sie sich nicht mehr in der richtigen Reihenfolge befanden. Nach einer Weile begriff sie, dass sie die Sache nur hinauszögerte, und nahm den Brief auf, der ihr als Erstes mit geschlossenen Augen in die Hand fiel.
Zufälligerweise stammte er vom 10. Oktober 1857, genau vor einem Jahr. Sie lächelte über die Ironie des Schicksals, setzte sich mit gekreuzten Beinen auf die Matratze, öffnete den Brief und legte ihn auf ihr weites Nachthemd.
»Roxane, mein Liebling, das Licht ist schon schwach, aber ich werde mich beeilen, um dir alles zu schreiben, was ich dir sagen will. Ich weiß, wie schwer es dir gefallen ist, mich gehen zu lassen, und du hast mich nur um zwei Dinge gebeten: Ich soll dir so oft wie möglich schreiben und so schnell wie möglich zu dir zurückkommen. Ich bemühe mich, zumindest eines meiner Versprechen zu erfüllen …«
Roxanes Herz setzte bei diesen Worten für einen Moment aus und zog sich dann schmerzhaft zusammen. Sie legte die Finger an die Lippen und las den Brief zu Ende, bevor sie willkürlich einen weiteren herausgriff.
Die Reihenfolge spielte keine Rolle, denn diese Briefe mussten nicht wie ein Roman vom Anfang bis zum Ende gelesen werden. Es waren seine Gedanken, so wie er sie empfunden hatte, und der Zeitpunkt war nicht wichtig. Er schrieb über seine Gedanken an Roxane und an ihr ungeborenes Kind, über die Rebellion und das Leid der Männer um ihn herum, erzählte Anekdoten über Bekannte und Erinnerungen an die Heimat und sprach von einem gemeinsamen Leben nach seiner Rückkehr.
Nach einer Weile begriff Roxane, was er damit bezweckt hatte. Es war sein letztes Geschenk für sie, eine Darstellung seines Lebens. Irgendwie musste er in seinem tiefsten Inneren gespürt haben, dass er sterben würde. Und er schien sich nicht vor dem Tod gefürchtet zu haben, aber er hatte sie wissen lassen wollen, was ihn in seinem Leben bewegt hatte. Also schrieb und schrieb er und bedeckte jeden Zentimeter des Papiers mit seiner fließenden, prägnanten Handschrift. Diese Sammlung seiner Briefe, auf die sie keine Antwort geben konnte, war das letzte bedingungslose Zeugnis seiner Liebe zu ihr.
Nachdem sie alle Briefe gelesen hatte, wischte sich Roxane mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen, schob die Papiere zu einem Stapel zusammen und stand vom Bett auf. Mit zwei angefeuchteten Fingern löschte sie die schwach flackernde Kerze. Dann streifte sie sich ihren Morgenmantel über und schlich leise die Treppe zur hinteren Veranda hinunter. Schon bald würde die Sonne aufgehen. Sie würde den Sonnenaufgang betrachten, den Vorläufer eines jeden Tages, den sie ein wenig verlegen als Omen betrachtete.
Die Zeit ist gekommen. Jetzt ist es so weit. Jetzt kann es nur noch besser werden.
Die Tür quietschte und musste dringend geölt werden. Roxane hielt den Atem an und lauschte, ob sie Govind geweckt hatte, dessen Zimmer nicht weit entfernt lag. Als sie nichts hörte, trat sie in die kalte Luft hinaus. Sie hatte ihre Hausschuhe vergessen, und der Holzboden fühlte sich rau und feucht unter ihren Füßen an. Trotzdem ging sie zum Geländer hinüber, lehnte sich mit den Hüften dagegen, verschränkte die Arme unter der Brust und schob die Hände in die jeweils gegenüberliegenden Ärmel. Ein flammend roter Streifen hinter den Bäumen am Horizont kündigte die Morgendämmerung an. Die Felder und der Rasen waren noch in schattenloses Dunkel getaucht. Roxane legte den Kopf in den Nacken und atmete tief die frische Morgenluft ein.
Irgendjemand war offensichtlich auch schon auf den Beinen, denn sie roch Rauch, der von einer Brise getragen wurde, sodass der Geruch sie einzuhüllen schien. Es war ein schwerer, scharfer Geruch, der dem des türkischen Tabaks ähnelte, den Collier so gern geraucht hatte. Das brachte sie
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