Palast der Stürme
Haarnadel heraus und legte sie auf den Nachttisch. Dann zog er die Bettdecke über Roxane und sich zurecht und schmiegte sich wieder an sie. Draußen senkte sich die schwarze Nacht über die Erde.
Roxane spürte seine Lippen an ihrer Schläfe. Sein Atem strich warm und feucht über ihre Haut.
»Übermorgen bricht eine ausgewählte Truppe nach Delhi auf, Liebling«, sagte er schließlich.
»Und du wirst dich dieser Truppe anschließen.«
»Ich werde mit ihr gehen.«
Bei seinen Worten wartete Roxane auf das betäubende Gefühl, das sie damals empfunden hatte, als sie erfahren hatte, dass er verlobt und nicht frei war, doch es stellte sich nicht ein. Sie wartete auf ein Gefühl des Zorns oder der stumpfen Gleichgültigkeit, um sie von dem Elend zu trennen wie Öl von Wasser, aber auch darauf hoffte sie vergebens.
»Roxane, liebst du mich?«
Sie nickte schweigend.
»Dann wünsch mir Gute Reise, mein Liebling, und lass mich gehen. Du hast sehr lange Stärke bewiesen, und nun musst du mich meine Kraft wiederfinden lassen. Wir haben dieselben Dinge gesehen, Roxane. Du handelst und fühlst ähnlich wie ich. Lass mich ohne Gram gehen, und ich verspreche dir bei allem, was mir heilig ist, dass ich zu dir zurückkommen werde.«
Roxane lag still in den Armen ihres Ehemannes und lauschte seinen abgehackten Atemzügen und seinem beschleunigten Herzschlag.
Er nahm ihre Hand und verschränkte seine Finger mit ihren, aber er blieb stumm und versuchte nicht mehr, sie weiter zu bitten.
Roxane dachte über all die Argumente nach, die sie für sich und für das Kind vorbringen könnte, und auch für sein Wohlergehen. Sie wusste, dass sie die Macht besaß, ihn dazu zu überreden hierzubleiben, in Sicherheit und außer Gefahr. Aber selbst wenn sie wüsste, dass sie es sich eines Tages verzeihen würde, dieses Privileg als seine Frau genutzt zu haben, war ihr klar, dass er es ihr nie wirklich vergeben würde.
Während sie den Kopf an seine Schulter schmiegte, erinnerte sie sich an seine Worte, mit denen er auf ihre Frage nach seiner Ehre geantwortet hatte. Meine Ehre und meine Liebe stehen vor mir. Und nichts kann wichtiger sein …
Diese Worte waren wahrheitsgemäß ausgesprochen worden und von Herzen gekommen, und im Wesentlichen hatte sich nichts daran geändert. Sie wusste, dass sie immer noch seine große Liebe war und dass ihre Beziehung das Kernstück war, aus dem sich alles entwickelte. Ja, er würde in den Kampf ziehen und seine Pflicht als Soldat erfüllen, aber selbst dieses Pflichtbewusstsein wurde durch ihre Liebe und ihr Verständnis füreinander gelenkt. Sie wiederum glaubte auch an Prinzipien, an die sie sich halten musste. Sie durfte sich jetzt nicht von ihm abwenden. Wenn sie jetzt selbstsüchtig handelte, würde das irreparablen Schaden anrichten. Seine Pflicht war aus offensichtlichen Gründen sehr wichtig für ihn. Würde sie ihn ohne ihren Segen gehen lassen, würde er seine Ehre verlieren. Roxane drehte sich so, dass sie sich auf seine Brust legen konnte, und betrachtete sein Gesicht im Schatten. Sie hob die Hand und fuhr mit den Fingerspitzen seine Konturen nach, bevor sie ihn auf den Mund küsste und dann leicht zurückwich, damit er ihre Worte nicht missverstehen konnte.
»Ich wünsche dir eine gute Reise, Collier«, sagte sie. »Und wenn du zurückkommst, dann werden wir beide auf dich warten.« Sie zog seine Hand auf ihren Bauch. »Und bleib bitte nicht so lange fort.«
Er ließ seine Hand über ihren Bauch nach unten wandern, bis er die warme, feuchte Stelle erreicht hatte. Vorsichtig legte er sich auf sie und drang langsam und mit sanftem Druck in sie ein.
»Nicht lange«, flüsterte er seufzend. »Ich schwöre es.«
24
England
Oktober 1858
Es war ein herrlicher Tag. Der Himmel wirkte blauer als sonst, die Luft war lau, und das Laub leuchtete in verschiedenen Grün-, Gold-, Braun- und Orangetönen. Die Blumen waren schon seit Langem verdorrt, bis auf die wenigen neben dem Eingang angepflanzten winterfesten Chrysanthemen. Ihre rostfarbenen Köpfe neigten sich rauschend in der leichten Brise.
Roxane saß auf einem Korbsessel auf der langen, schmalen Veranda des Hauses, das sie gemietet hatte – nach dem Verkauf ihres Londoner Hauses, das ihr Heim und das ihrer Mutter gewesen war. Sie sah auf die im Sonnenlicht goldgelb schimmernden Felder hinaus. Schon bald würden sie von den Bauern abgeerntet werden. Sie freute sich auf die Erntezeit, auf die Spreu, die in hellbraunen Staubwolken in die
Weitere Kostenlose Bücher