Palast der Stürme
Luft flog, und auf das Knarren des Leders und das Knirschen der Räder auf der Erde, wenn die Männer laut ihre Befehle rufend die Wagen lenkten. Sie dachte an ihre Kindheit und hoffte, dass sich im Laufe der Jahre der Anblick, die Geräusche und die Gerüche nicht verändert hatten.
Sie hatte heute zwei Briefe mit der Post erhalten und drückte sie nun beide auf ihren Schoß. Der erste war von Unity, aber sie hatte ihn noch nicht geöffnet. Heute war nicht ihr Tag, und Unitys überschwängliche Beschreibungen waren ihr im Moment zu viel. Der andere Brief kam von Rose und Harry, die sie, Sera und das Baby in den Ferien nach London einluden.
Roxane warf einen Blick in die Wiege, die neben ihr stand. Der Kopf des Babys war fast ganz von der Steppdecke verborgen, sodass man nur die glänzenden dunklen Locken sah, so schwarz wie Colliers Haar. Ihr Kind war jetzt beinahe zehn Monate alt und lief bereits mit unsicheren, vorsichtigen Schritten. Oh ja, es war ein starkes Kind, wie sie auf der Flucht um ihr Leben in Indien bereits vermutet hatte. Ein kräftiges Kind, aber kein Junge.
Das Baby war im Januar in Kalkutta zur Welt gekommen. Collier war zu diesem Zeitpunkt bereits seit vier Monaten nicht mehr bei ihr, und sie hatte kein Wort von ihm gehört. Sie zweifelte nicht daran, dass er ihr wie versprochen fleißig geschrieben hatte, aber er hatte seine Briefe nicht abschicken können. Irgendwann würden sie wohl auftauchen. Sicher hob er sie alle auf, wie sie sich einredete, und eines Tages würde er sie ihr geben. Eines Tages, wenn er zu ihr zurückkam.
Vor seiner Abreise hatten sie sich jedoch nicht mehr die Zeit genommen, über Namen für das Baby zu sprechen, oder darüber, welche in der Familie gebräuchlich waren. Roxane hatte irgendwann nicht mehr warten können. Sie hatte das Kind nicht länger »Baby« nennen wollen und eine Taufe vorbereiten müssen. In Indien eilten solche Dinge – das Land war nicht freundlich zu seinen Kindern.
Roxane hatte ihr Kind trotz Widerstands »India« getauft. »India Colleen«, Collier zuliebe. Es war ein hübsches, hellhäutiges Kind mit grünen Augen und schwarzem Haar. In diesem Punkt hatte Unity recht behalten. Sie hatten ein wunderschönes Mädchen gezeugt. Roxane hatte noch nie ein schöneres Kind gesehen.
Collier hatte sein Kind noch nie gesehen.
Roxane schloss die Augen und lehnte den Kopf lustlos gegen die Stuhllehne. Sie hatte sich für stärker gehalten. Einige ihrer Freunde und Bekannten lobten sie für ihren Mut und ihre Tapferkeit und machten Bemerkungen darüber, wie sie es nur schaffte, solche Verluste hinzunehmen, aber sie sah das anders. Vielleicht präsentierte sie ihrer Umwelt eine tapfere Miene, aber eigentlich hangelte sie sich nur von Tag zu Tag. Der anfängliche Schock, der sie so gut abgeschirmt hatte, hatte schon vor langer Zeit seine Schutzwirkung verloren und isolierte sie jetzt lediglich von den Menschen, die sie liebte oder zu lieben gelernt hatte.
Ahmed war tot. Er war mit vielen seiner Verwandten, darunter auch die Söhne von Bahadur Shah, gehängt worden. Es war eine direkte oder indirekte Vergeltung des Massakers an den europäischen Frauen und Kindern unter den breiten Zweigen des Pipalbaums gewesen. Roxane wusste nicht, was aus dem Brief geworden war, den sie für ihn verfasst hatte. Vielleicht war er zu stolz gewesen, ihn vorzuzeigen, oder die britischen auf Rache bedachten Soldaten hatten ihn einfach ignoriert.
Harry hatte ihr die Nachricht überbracht. Diese und auch die andere. Wären diese Worte nicht aus Harrys Mund gekommen, so hätte sie nicht geglaubt, dass diese beiden Ereignisse wirklich der Wahrheit entsprachen.
Als Collier nach Delhi abgereist war, hatte Harry ihn begleitet. Rose war am Boden zerstört gewesen und hatte Collier beschuldigt, Harry dazu angestiftet zu haben. Roxane hatte sich jedoch in der Nacht vor der Abreise der beiden Männer lange mit Harry unterhalten, und sie wusste, dass Rose nicht recht hatte. Sie versuchte jedoch nicht, sie eines Besseren zu belehren. Rose war felsenfest davon überzeugt, dass es keinen anderen Grund für Harrys Abreise geben konnte.
Wie lange das alles schon zurückzuliegen schien. Roxane öffnete die Augen und ließ den Blick wieder über die Felder schweifen. Auf dem gepflegten Rasen vor dem Haus pickten ein Dutzend Amseln auf der Erde und legten den Kopf schief, um den Boden vor ihren Füßen zu beäugen.
Roxane traten Tränen in die Augen. Sie senkte die Lider und dachte daran,
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