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Palast der Stürme

Palast der Stürme

Titel: Palast der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alyssa Deane
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    Kalkutta, Provinz Bengalen
April 1856
    Roxane Sheffield stand neben ihrem Gepäck und verglich das Bild der überfüllten, farbenprächtigen Stadt mit den bräunlichen Fotos, die sie sich von Indien besorgt hatte. Nach so vielen Wochen auf See tat es gut, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie begierig die vielen Eindrücke aufsog. Indien schien eine eigene Welt zu sein, die sich durch erstaunliche Farben und Kontraste und anschauliche Bilder einer lebendigen Kultur auszeichnete. Sie war so fasziniert von diesem ersten Anblick, dass ihr ihr bisheriges Heim in England auf einmal glanzlos und grau und ungeheuer weit entfernt erschien.
    Während sie ihre widerspenstigen dunkelbraunen Locken zurechtstrich, überlegte sie, dass sie gut daran getan hatte, sich nicht von ihrem Plan abbringen zu lassen. Es war klug gewesen, auf die Bitte ihres ihr fremd gewordenen Vaters, ihn zu besuchen, einzugehen, obwohl ihre Verwandten und ihre Freunde dringend davon abgeraten hatten. Sie hatte sich die Entscheidung nicht leicht gemacht – einerseits hatte sie die Aussicht auf eine Reise nach Indien schon immer fasziniert, andererseits hatte der Grund dafür sie aber auch abgeschreckt.
    Inmitten ihrer Mitreisenden beobachtete Roxane die gefühlsbetonten Begrüßungen der Wartenden und beglückwünschte sich dazu, dass ihr diese Peinlichkeit erspart blieb. Sie hatte darauf bestanden, nicht von ihrem Vater in Kalkutta abgeholt zu werden, sondern ihn erst nach ihrer Ankunft in Delhi zu treffen. Bis dahin würde sie bei den Stantons wohnen, einer Familie, die, wie sie feststellte, während sie nach einem ihr kaum noch bekannten Gesicht Ausschau hielt, nicht pünktlich zur Stelle war. Nach einem kurzen Aufenthalt mit einer entsprechenden Einführung in die besseren Kreise in Kalkutta, würde Roxane mit den Stantons nach Delhi reisen, um dort ihren Vater Colonel Sheffield zu treffen und sich mit ihm auszusprechen. Eine solche Aussprache war unabdingbar nach einer Zeitspanne von fünfzehn Jahren, in der seine elterliche Fürsorge kaum spürbar gewesen war.
    Wenn sie sich bei diesem Treffen umsichtig verhielt, würde sich die Situation vielleicht ein wenig unbehaglich, aber nicht allzu emotional gestalten. Sie hatte sich bereits vor langer Zeit beigebracht, kühl und reserviert zu bleiben, wenn es um diesen Mann ging. Immerhin war er gegangen, ohne auch nur auf Wiedersehen zu sagen, geschweige denn er hätte ein Wort des Bedauerns oder der Reue geäußert. Warum sollte sie das jetzt tun? Natürlich war es nötig, sich auszusprechen, aber das Bemühen um eine erneute Annäherung musste schließlich nicht die Züge einer Gefühlskrise tragen. Roxane war stolz auf ihren kühlen Kopf und auf ihre Selbstsicherheit, mit der sie bisher jede Lebenssituation gut gemeistert hatte.
    Sie lockerte die Taftschleife unter ihrem Kinn und zog den Strohhut tiefer in die Stirn, um ihre Augen vor der aufsteigenden indischen Sonne zu schützen. Roxane hatte schöne Augen von einem strahlenden Grün, die in harmonischer Proportion neben ihrer langen, geraden Nase lagen. Sie betonten nicht nur die hübschen Konturen ihres Gesichts, sondern ließen in ihrem Ausdruck auch keinen Zweifel daran, dass man diese junge Frau nicht unterschätzen sollte. Jetzt richtete sich der Blick aus diesen schönen Augen auf eine beachtliche Armee einheimischer Dienstboten in farbenprächtigen Gewändern, die sich daranmachten, jedes Gepäckstück in Sichtweite an sich zu reißen. In weiser Voraussicht ließ sie sich auf ihren bereits leicht ramponierten Schrankkoffer sinken und zupfte ihren apfelgrünen Rock um die schlanke Figur zurecht, während es ihr gelang, deutlich zu machen, dass die Gepäckstücke zu ihren Füßen tabu waren.
    Sie wandte sich um und verabschiedete sich von den Reisegefährten, mit welchen sie sich locker angefreundet hatte. Immer wieder nahm sie unbestimmte Einladungen zum Abendessen entgegen, die sie, wäre sie allen gefolgt, während ihres Aufenthalts in Kalkutta beschäftigt halten würden. Nachdem die Einladungen ausgesprochen waren und die meisten Reisenden sich auf den Weg gemacht hatten, wandte Roxane ihre Aufmerksamkeit wieder der faszinierenden Umgebung zu. Obwohl noch violette und rostfarbene Schatten über der Stadt lagen, während die Sonne langsam am Horizont aufstieg, herrschte bereits ein reges Treiben, das sie fesselte.
    »Miss Sheffield, hat man Sie im Stich gelassen?«
    »Wie bitte?«

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