Paloma
Antonia bekam das Ende der Saison zu spüren, sie verkaufte von Tag zu Tag weniger. Paloma ließ die Frauen, die für sie strickten, erst einmal eine Pause einlegen, ehe die Arbeit für die nächste Saison mit Hochdruck weitergehen würde. Mit neuen Strickmustern und Farben.
Aber noch immer war einiges los vormittags in San Lorenzo. Die Terrasse der Bar El Centro war nach wie vor gut besucht. Nur waren es jetzt in der Mehrzahl Einheimische, die sich dort trafen. Vor allem diejenigen, die jetzt nichts oder nicht mehr viel zu tun hatten. Trotzdem war die Stimmung ausgesprochen gut, denn insgesamt war man der Meinung, es sei eine ungewöhnlich gute Saison gewesen. Und da jeder davon überzeugt war, die nächste würde nicht schlechter, trugen sich viele mit dem Gedanken, ihre geschäftlichen Aktivitäten auszudehnen. Fast jeder Bar- oder Restaurantbesitzer, fast alle Inhaber von Souvenirläden, Boutiquen, Fahrrad- oder Mietwagengeschäften planten einen weiteren Laden. Im Vertrauen auf das Rechenbeispiel, dass eins und eins zwei ergab, ein weiteres Geschäft also automatisch eine Verdoppelung der Einnahmen bedeutete. Sich so gegenseitig den Rücken stärkend, begegnete man sich an den Bankschaltern wieder. Und so herrschte bei sämtlichen Banken Hochbetrieb – mittlerweile gab es bereits sieben Bankniederlassungen auf der Insel - und überall standen die Leute Schlange, um weitere Kredite zu beantragen.
Die alte Antonia baute ihren Stand für dieses Jahr endgültig ab. Sie dachte allerdings nicht daran, jetzt wieder jeden Tag zuhause zu sitzen sondern ließ sich auch weiterhin von einem ihrer Neffen in den Ort fahren. Und schon bald war man daran gewöhnt, sie jeden Morgen bei einem Gläschen Likör in der Bar El Centro sitzen zu sehen. Gelegentlich traf sich Paloma dort mit ihr und sie redeten darüber, wie viel Wolle sie für die nächste Saison brauchten und wie viele Frauen, die für sie strickten. Nach und nach machte das Beispiel Schule, auch einige andere Frauen der Insel tauchten in der Bar El Centro auf. Hauptsächlich unverheiratete Frauen, denn die Männer sahen es nicht so gerne, wenn sich ihre Frauen diese Freiheit herausnahmen.
Paloma hatte auch weiterhin niemandem von ihrer Schwangerschaft erzählt. Allerdings war sie im Stillen davon überzeugt, dass die alte Antonia längst Bescheid wusste. Ihre gelegentlich prüfenden Blicke entgingen Paloma nicht, aber da sie nicht darüber sprach, schwieg Paloma ebenfalls darüber. Im Übrigen wunderte sie sich fast über die Kurzsichtigkeit der Leute. Denn ihr Bauchumfang hatte allmählich so zugenommen, dass sie in keines ihrer Kleider mehr hineinpasste und sich einen losen Hänger aus Baumwolle nähen musste.
Es ging bereits auf Weihnachten zu, als es endlich ein Ende hatte mit dem Versteckspiel. Eines Morgens sprach Ana sie darauf an. Sie war mit ihren beiden Buben bei Paloma, was sie jetzt öfter tat, seit der Laden, in dem sie arbeitete ebenfalls dicht gemacht hatte. Während die beiden Frauen in der Sala saßen, waren der sechsjährige Tomás und sein zweijähriger Bruder Carlos hinter dem Haus und rannten den Hühnern und Truthähnen hinterher. Was die beiden wohl deshalb spannend fanden, weil es bei ihnen zuhause schon längst keine Tiere mehr gab. Während Paloma und Ana dasaßen und redeten, strich sich Paloma zufällig und völlig unbewusst ihren Rock glatt, der sich damit deutlich sichtbar über ihrem Bauch spannte. Im gleichen Moment sah sie Anas Blick. Überraschung lag darin ... im ersten Moment, danach jedoch deutliches Entsetzen. Die beiden Frauen sahen sich einen Augenblick lang schweigend an. Von draußen war das Gackern der aufgescheuchten Hühner und das Geschrei der Kinder zu hören.
„Mein Gott!“, kam schließlich von Ana.
Paloma lächelte unsicher. „Das hat vielleicht gedauert, ehe du was gemerkt hast.“
„Wie weit bist du? Mindestens sechster Monat, oder?“
„Anfang siebter. Ana, bitte hör auf, so ein Gesicht zu machen. Hast du nicht immer gesagt, wie schön es wäre, wenn unsere Kinder zusammen spielen könnten.“
„Schon, aber doch nicht ...“
Mehr sagte Ana nicht. Paloma wusste ohnehin, was sie hatte sagen wollen. Ärger stieg in ihr auf. Ausgerechnet Ana! Die von morgens bis abends in ihren Zeitschriften las und sich und die Kinder und ihr Haus nach neuester Mode herrichtete. Und sich wunder wie modern und fortschrittlich vorkam.
„Ich kann es einfach nicht glauben. Ehrlich nicht. Warum hast du nie, nie ein Wort
Weitere Kostenlose Bücher