Pan Tau
Haarwuchsmittel in ein Zauberhaarwuchsmittel zu verwandeln, war kinderleicht...
Pan Tau wurde bleich.
Das ganze Zimmer duftete nach Nußöl, Pfefferminz und Eukalyptus. Der Verschluß der goldverzierten Flasche war abgesprungen. Ein Nebel von Spray erfüllte den Raum. Ein paar Tropfen des Haarwuchsmittels fielen auf den Kaktus zwischen den Spiegeln. Aus den Stacheln begannen Silberfäden zu wachsen.
Der Lehrer war wie vom Donner gerührt.
Vor seinen Augen verwandelte sich sein glatter Kaktus in einen haarigen Kaktus. Das Haarwuchsmittel funktionierte einwandfrei. Wie im Fieber griff Herr Radetzky nach dem Ratgeber für Kakteenfreunde. Dann nach dem Telefonhörer. Er wählte die Nummer der Schule und schrie:
»Herr Direktor? Hier Echinocactus myriostigma! Aber er hat einen Bart!«
Wie im Traum hörte er den am andern Ende der Leitung auflachen: »Echinocactus myriostigma? Machen Sie sich nicht lächerlich, Kollege! Wenn Sie Cephalocereus nympha aurea gesagt hätten...« Die Stimme wurde plötzlich ernst. »Stacheln soll er zuerst gehabt haben, behaupten Sie, und nun einen Bart? Nein! Das wäre eine unglaubliche Mutation! Ich komme sofort zu Ihnen!«
Ein Glücksgefühl durchströmte den Herrn Lehrer. Ich werde berühmt. Sogar der Herr Direktor...
Er betrachtete liebevoll seine Kakteen. Die Spiegel muß ich gleich noch einmal verstellen, dachte er. Und schrie in den Telefonhörer: »Kommen Sie nicht! Ich wasche mir eben die Haare.«
»Sie? Die Haare?«
»Ich.« Herr Radetzky blickte entsetzt in die Spiegel über der Kakteensammlung. Die Haare reichten ihm bis zu den Schultern. Wie dem Schüler Andermann. »Ich kann jetzt keinen Besuch empfangen. Auch der Echinocactus myriostigma nicht.«
Er legte den Hörer auf. Dann rannte er ins Badezimmer, um die Schere zu holen. Er erinnerte sich, was er heute zum Schüler Andermann gesagt hatte: Laß dir von der Mutter Geld für den Friseur geben! Er seufzte.
Mit diesen schulterlangen Haaren konnte er niemandem vor die Augen treten. Weder auf der Straße noch in der Schule. Als Klassenlehrer der dritten A wollte er seinen Schülern stets ein gutes Vorbild sein. Damit war es nun aus. Ein entsetzlicher Gedanke, wie ein Popsänger, mit Haaren bis zur Schulter, das Klassenzimmer zu betreten. Die dritte A würde bestimmt verwildern und üble Angewohnheiten annehmen. Der Schüler Andermann würde sich die Haare bis zum Boden wachsen lassen. Emil würde Zigaretten rauchen. Und die Mädchen...
Der Herr Lehrer verfluchte das einzig erfolgreiche Haarwuchsmittel. Die Schere hatte er gefunden. Schweren Herzens hielt er sie an sein so plötzlich schönes und langes Haar, um es abzuschneiden. Doch er kam nicht dazu. In die Stille gellte eine Autohupe.
Pan Tau hatte sich selbst übertroffen.
Wie von der Decke gefallen stand ein Auto im Zimmer. Mit der vorderen Stoßstange berührte es das Tischchen, auf dem die Kakteensammlung stand, mit der hinteren den Bücherschrank. Es war jener graue Mercedes, Herrn Radetzkys Sehnsucht. Das Traumauto duftete nach Lack und blickte mit seinen Scheinwerfern treuherzig den Lehrer an.
Der Herr Lehrer resignierte. Er öffnete die vordere Tür des Autos, um sich über den Vordersitz hinweg zum Geschirrschrank zu schlängeln. In der Schublade hatte er ein Schlafmittel. Er nahm drei Pillen und schluckte sie mit Wasser hinunter. Durch die hintere Tür des Autos kroch er in sein Bett.
Er vergrub sich in die Kissen. Er sagte sich: Nichts ist passiert. Ich schlafe und träume von dem Auto. Das Auto im Zimmer gibt es nicht. Wenn ich aufwache, ist es nicht mehr da. Alles wird sich wieder ordentlich an seinem Platz befinden. Ich werde aufwachen und mir meine zweiunddreißig Haare seitwärts kämmen. Auf dem Küchentisch werde ich den Tee in der Kanne, das Ei im Eierbecher und auf dem Teller die zwei Toastbrote mit den Möhren finden. Und der bärtige Echinocactus myriostigma wird keinen Bart mehr h-a-b-e-n.
Der Herr Lehrer war bereits eingeschlafen. Der böse Traum hatte sich in einen schönen Traum von einem Garten mit aufblühenden Kakteen der Familie Echinocactus myriostigma verwandelt. Über den Kakteen flatterten bunte papageiengroße Schmetterlinge und sangen die Ode an die Freude aus der Neunten Symphonie von Ludwig van Beethoven.
Pan Tau setzte sich müde auf den Kotflügel des Mercedes und beobachtete den Herrn Lehrer, der im Schlafe lächelte. Nein, er verstand die Erwachsenen nicht. Ein Kind wünscht sich ein Dreirad und freut sich, wenn es
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