Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
Helligkeit, und sie fiel. Der Aufprall war hart und schmerzhaft. Sie rollte über felsigen Boden, stieß gegen ein Hindernis und blieb liegen. Keuchend rang sie um Atem.
Irgendwann verschwand die Todesangst. Anschließend fühlte sie sich so niedergeschlagen, erschöpft und leer wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
Es gab so viel Böses auf der Welt, es war allgegenwärtig, allmächtig.
Wie klein, wie sinnlos waren dagegen ihre eigenen Bemühungen. Was sie auch tat, es war aussichtslos. Das Böse siegte immer.
Vivana begann zu weinen.
Ruac stieß sie mit der Schnauze an. Mit schmerzenden Gliedern setzte sie sich auf, drehte sich von dem Licht weg und drückte den Tatzelwurm an sich. Alles, was sie wollte, war schlafen, vergessen. Ihren Verstand für einige Stunden ausschalten, damit sie nicht unentwegt daran denken musste, wie schwach und unbedeutend sie war.
Ihr Vater erschien zwischen den Felsen.
»Wo ist der verdammte Alb?«, knurrte er.
Vivana hatte Mühe zu sprechen. Ihr Rachen fühlte sich rau, heiß und verklebt an, wie bei einer Erkältung. Als ihr Vater näher kam, sah sie, dass er ein Messer in der Hand hielt. »Was hast du vor?«
»Den Mistkerl abstechen.«
»Was? Bist du verrückt geworden?«
Er blickte sich um und schnaubte wütend, als er Lucien nirgends entdeckte. »Gib mir den Tatzelwurm«, verlangte er.
Vivana verbarg Ruac schützend in den Armen. »Was ist denn auf einmal mit dir los?«
Er beugte sich zu ihr herunter. Das gleißende Licht fiel von der Seite auf sein Gesicht, und sie sah, dass es vor Hass verzerrt war. »Gib ihn mir!«
Er streckte seine mechanische Hand nach Ruac aus. Vivana wich zurück. »Lass ihn in Ruhe!«
»Diese abstoßende Missgeburt! Überall kriecht er herum und schnüffelt und züngelt. Ich habe das lange genug ertragen. Jetzt ist Schluss. Ich schlitze ihn auf und ziehe ihm die Haut ab!«
Als er abermals nach Ruac greifen wollte, biss ihm der Tatzelwurm in den Arm. Vivanas Vater brüllte vor Zorn und holte
mit dem Messer aus. Vivana duckte sich gerade noch rechtzeitig, sodass die Klinge über den Felsen schrammte.
»Hör auf!«, schrie sie. »Du hättest mich beinahe verletzt!«
Er schien sie gar nicht zu hören. Mit zusammengekniffenen Augen kam er auf sie zu, seine Lippen ein schmaler Strich.
Vivana hielt Ruac fest, kroch rückwärts und versuchte gleichzeitig, sich aufzurichten. Plötzlich bemerkte sie einen Schemen, der sich ihrem Vater von hinten näherte.
»Schlaf.«
Der Erfinder sank zu Boden und fing sofort an zu schnarchen.
Vivana blickte erst ihn an, dann Lucien. Sie brachte kein Wort heraus.
Ruac entwand sich ihren Händen, sprang zu Boden und schnüffelte an ihrem Vater, als wolle er sich davon überzeugen, dass keine Gefahr mehr von ihm ausging. Vivana war, als erwache sie aus einer Trance.
»Was ist bloß in ihn gefahren?«
»Das Böse, das durch das Tor sickert«, sagte Lucien. »Es hat seinen Verstand vergiftet. Das geschieht leicht, wenn man nicht aufpasst.«
Vivana untersuchte ihren Vater, vermied es jedoch, ihn zu berühren. Er atmete gleichmäßig und schien sich bei seinem Sturz nicht verletzt zu haben. »Wird es wieder weggehen?«
»Mit etwas Glück verflüchtigt sich die böse Energie nach ein paar Stunden. Aber wenn wir Pech haben, setzt sie sich in seiner Seele fest. Es hängt ganz davon ab, wie empfänglich dein Vater dafür ist.«
Sie musterte den Schlafenden. Ihr Vater besaß ein verbittertes Wesen und neigte zu Pessimismus und Jähzorn. Keine guten Voraussetzungen , dachte sie und unterdrückte ein Schaudern.
»Wie geht es dir?«, fragte Lucien.
Sie zuckte mit den Schultern.
»Es macht dir zu schaffen, richtig? Jeder reagiert anders darauf. Manche werden aggressiv, andere verfallen in Melancholie. Am besten ruhst du dich aus, während dein Vater schläft.«
»Dir scheint es nicht viel auszumachen«, stellte Vivana fest.
»Ich bin ein Schattenwesen. Wir bestehen aus Magie und haben keine Seele, wo sich das Böse einnisten könnte. Zumindest keine wie ihr.«
Vivana beobachtete Ruac, der neugierig über das Felsplateau watschelte. Offenbar war der Tatzelwurm – ebenfalls ein Schattenwesen – genau wie Lucien unempfindlich gegen den Einfluss der bösen Energien, die durch das Tor flossen und als stinkende Rinnsale den Abhang hinabströmten.
Sie half dem Alb, ihr verstreutes Gepäck einzusammeln und zwischen den Felszacken ein Lager herzurichten. Allerdings war sie so erschöpft, dass Lucien darauf bestand, sie
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