Paradies für alle: Roman (German Edition)
war. Wieder sein würde, sagte ich mir. Bald. Aber in der Zwischenzeit, während David in einem Stadium zwischen Existenz und Nichtexistenz schwebte, gab es kein Zuhause. Das von uns bewohnte Bauwerk am Ende der kleinen Kopfsteinpflasterstraße zwischen den beiden großen Kastanien hatte keinerlei Bedeutung bis auf die, dass es ein Gefäß der Erinnerung war, die alten Backsteinmauern wie eng beschriebene Blätter mit Geschichten über Davids Kindheit.
Es regnete, als Claas von der Bundesstraße zum Dorf abbog. Das Licht hing tief aus den Wolken, fädenziehend und grau. Die einsame Spaziergängerin war noch immer oder schon wieder über die Felder unterwegs. Sie trug jetzt einen schwarzen Regenschirm.
Es war Nachmittag.
Wir hatten die ganze Nacht an Davids Bett gesessen, oder besser gesagt: Ich hatte dort gesessen. Claas war auf dem Flur auf und ab gegangen und manchmal leise hereingekommen, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Natürlich war nichts in Ordnung.
Ich hatte weiter Davids Hand gehalten, trotz der Schläuche. Seine linke, denn der gesamte rechte Arm steckte in einem Gips, nur die Fingerspitzen waren zu sehen.
Gegen Morgen hatte ich doch mit dem Arzt gesprochen. Er hatte Kaffee gekocht.
Ich sah noch vor mir, wie er mir die Tasse hinschob und Milch hineingoss. Ich mag keine Milch im Kaffee.
»Danke«, sagte ich und trank den Kaffee mit Milch.
Der Arzt hieß Samstag, Thorsten Samstag, es stand auf dem Schild an seinem Kittel. Er hatte keine Zeit, nahm sich aber welche.
Er sprach lange in meinen Kaffee.
Es gäbe, sagte er, Chancen. Aber man könnte nichts Genaues sagen. Man könnte nicht sagen, wann David aufwachte. Oder ob. »Oder ob«, sagte er nicht, er schwieg es. Ich las die Worte im Kaffee gleich unter der Milch und trank sie rasch aus, ehe sie in mein Bewusstsein vordringen konnten.
Die Knochenbrüche, die David davongetragen hatte, waren unwichtig, nebensächlich, heilbar. Was den Ärzten Sorgen bereitete, war sein Kopf. Schädel-Hirn-Trauma, sagte Thorsten Samstag, ein Bruch auch im Schädel, haarfein, ein Riss, aber es wäre unklar, wie sehr das Gehirn darunter gelitten hätte. Sie würden heute noch einmal ein MRT machen.
Fahren Sie nach Hause. Es nützt jetzt keinem etwas, wenn Sie hierbleiben. Ruhen Sie sich ein wenig aus. Sie können jederzeit hier anrufen. Ich dankte ihm und wusste nicht, wofür. Er machte nur seine Arbeit. Wie Claas, wenn er in der Klinik war. So also ist das, dachte ich, spricht Claas so mit seinen Patienten? Er arbeitete nicht auf der Intensivstation, sondern in der Inneren, in Stralsund, aber Patienten sind Patienten. Ist es so, wenn Claas sich Zeit nimmt für sie und deshalb keine Zeit hat für David oder für mich?
Ich sah ihn von der Seite an, als er die Haustür aufschloss, an jenem strähnig grauen Mainachmittag, im Regen. Claas Altenau, oder genauer gesagt Doktor Claas Peter Altenau, mein Mann. Namen mit Doktor vorne klingen immer wie aus einem Groschenroman. Claas war ungeeignet für Groschenromane. Er war sehr groß, aber nicht schön. Auch nicht hässlich, nur eben nicht schön. Sein linkes Ohr stand ein wenig zu weit ab, sein Gesicht war ein wenig zu schmal, seine Nase ein wenig zu krumm, und seine Zähne waren ein Zeugnis der Kieferorthopädie vergangener Jahrzehnte. Die Feuchtigkeit hatte sein schwarzes Haar an diesem Morgen zu Locken gedreht, obwohl er es seit einigen Jahren beinahe militärisch kurz schneiden ließ, um ebendiese Locken zu vermeiden, weil er sie unangemessen fand für sein Alter. Als wäre er ein alter Mann. Im Januar war er fünfzig geworden, still und leise, ohne Geburtstagsfeier. An einem Sonntag, den er in der Klinik verbracht hatte.
Ich hatte einen Kuchen gebacken, in der Hoffnung, er würde früher nach Hause kommen als sonst. Er war nicht früher nach Hause gekommen. Abends hatten wir den Kuchen beide vergessen.
Er fand den richtigen Schlüssel nicht, seine grauen Augen wanderten verloren über die Vielzahl an Schlüsseln an dem Bund in seiner großen Hand – Fahrradschlüssel, Schlüssel zum anderen Auto, Schlüssel zum Werkzeugschuppen, Schafstallschlüssel … und der kleine Ersatzschlüssel für Davids Fahrradschloss. David verlor häufig seinen Fahrradschlüssel. Er verlor überhaupt vieles. Er war zu intelligent, unser Sohn, und gleichzeitig stets in Gedanken, zerstreut wie der sprichwörtliche Professor.
Einmal hatte er sich im Bad eingeschlossen, um herauszufinden, ob der Schlüssel zur Badezimmertür
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