Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
schwer, diese Geschichte geradeaus zu erzählen, sie ist jetzt vorüber, aber andererseits wird sie nie vorüber sein, und ich muss mich erst daran gewöhnen, sie so zu erzählen wie eine Geschichte, die vorüber sein könnte.
    Claas, das habe ich nicht erwähnt, ist mein Mann.
    David ist mein Sohn.
    Am zweiten Mai, dem Tag des Unfalls, war er neun Jahre und sieben Monate alt.

    Er lag in einem weißen Bett, das mir unnatürlich hoch vorkam. Es war irgendeine Art von Spezialbett, umgeben von Spezialgeräten: Monitoren, Infusionsständern, Geräten mit kleinen Digitalanzeigen, auf denen kryptische Ziffern leuchteten. Ein regelmäßiges und beinahe hypnotisches Piepen teilte die Luft in akkurate Zeiteinheiten. Über einen Bildschirm lief die neongrüne Linie eines EKGs.
    Mein erster Impuls war, auf das Bett zuzulaufen und ihn zu umarmen, ihn aus dem Wald der Geräte zu befreien, ihn an mich zu drücken, wie ich es getan hatte, wenn er hingefallen war, damals, vor sehr langer Zeit. David, David. Ich bin jetzt da. Alles ist gut.
    Das Piepen der Geräte hielt mich zurück wie ein unsichtbarer Zaun.
    »Sein Herz«, flüsterte ich. »Da, schau, sein Herz schlägt.«
    Claas nickte. Ich dachte, er würde meine Hand nehmen, um sie zu drücken, und zog sie weg, weil mir nicht danach war, von jemandem die Hand gedrückt zu bekommen, am allerwenigsten von ihm, dem emotionslos Nüchternen, der in fünf Sätzen etwas sagen konnte, das zu schrecklich für ein ganzes Buch war. Aber Claas hatte gar nicht den Versuch gemacht, meine Hand zu nehmen. Er stand nur da und starrte das seltsam hohe Bett an.
    Er kannte sich besser aus mit den Geräten und den Monitoren. Er ist Arzt.
    Ich fragte mich, ob er in den Linien und Ziffern Dinge las. »Sag mir nicht«, flüsterte ich, »was sie bedeuten. Wenn es etwas Schlimmes ist, will ich es nicht wissen.«
    Aber ich glaube, er hörte mich gar nicht. Er ging einen Schritt näher und beugte sich über das Bett. Vorsicht!, wollte ich jetzt rufen. Er braucht doch all diese Schläuche und Geräte, sie sind seine Verbündeten in einem Kampf gegen seine Verletzungen. Am liebsten hätte ich Bett und Geräte und David mit einer Glasglocke umgeben, damit ja niemand versehentlich einen Teil der Einheit zerstörte.
    Aber Claas war nicht ich, er machte nicht einmal den Versuch, David zu berühren. Natürlich nicht, dachte ich, nicht Claas.
    Ich trat auf Zehenspitzen an das Bett heran.
    Das Kindergesicht dort lag als stilles, blasses Oval in einem Rahmen aus weißem Gips. Der ganze Kopf war verbunden wie auf einer Karikatur, doch es sah nicht lustig aus. Es sah, wenn überhaupt, aus wie ein abstraktes Kunstwerk.
    Ich legte meine Hand auf die von David; seine Hand war weiß wie die Decke, weiß wie der Gips. In der Ellenbeuge weiter oben verschwand ein Infusionsschlauch.
    »David«, flüsterte ich. »Hier ist Mama.« Ich kam mir dumm vor dabei, er hatte nicht mehr »Mama« zu mir gesagt, seit er in die Schule gekommen war. Von da an hatte er darauf bestanden, mich bei meinem Vornamen zu nennen, Lovis. »Wir haben dich gesucht«, flüsterte ich. »Überall. Wir haben alle möglichen Leute angerufen, und … keiner hatte dich nach der Schule gesehen … Wir haben dann mit der Polizei telefoniert … David … Was ist passiert? Was?«
    Meine Stimme war unnatürlich tief und sehr heiser.
    »Er kann Sie nicht hören«, sagte ein Pfleger hinter mir. Er war ganz in Ultramarinblau gekleidet, und Ultramarinblau schien mir in diesem Moment eine völlig unverständliche Farbe. Allein schon das Wort.
    »Man weiß nie«, sagte ich, und der ultramarinblaue Pfleger wanderte weiter, zu irgendeinem anderen Bett in einem anderen Wald aus Schläuchen und Monitoren.
    Ich sah zurück zu David.
    Drei Strähnen seines rötlich blonden Haars fielen unter dem Verband hervor. Stilles, blasses Oval habe ich geschrieben. Das ist eine Lüge. Davids linke Wange war ein einziger dunkler Bluterguss, direkt unter dem Auge gekrönt von einer Schürfwunde, über der das Blut bereits getrocknet war. Ich fragte mich, weshalb sie sie nicht mit einem Pflaster abgedeckt hatten. Vielleicht war das unwichtig im Vergleich zu seinen anderen Verletzungen. Sein kleiner Körper befand sich unter einer dünnen weißen Decke, ich konnte nicht sehen, was für Verbände es sonst noch gab. Ich sah nur, dass sein schmaler Brustkorb sich hob und senkte. Und ich schluckte all meine Tränen hinunter, denn die Hauptsache war, dass dieser Brustkorb sich

Weitere Kostenlose Bücher