Paradies für alle: Roman (German Edition)
Fliederbusch wie kleine, sattgetrunkene Tiere mit durchsichtiger Haut. Das war etwas, das David gesagt hatte: dass die Tropfen aussahen wie kleine Tiere. Die Melancholie des ganzen nassen Gartens spiegelte sich in ihren gewölbten Oberflächen. Ich wischte mit einem alten Küchenhandtuch einen Stuhl trocken, ein Stück des Verandatisches … ein winziges Stück der Welt. Man kann, dachte ich, immer nur ein winziges Stück trocken wischen.
Schließlich setzte ich mich mit meiner Teetasse an den Tisch und schlug die Mappe ein zweites Mal auf. Doch ehe ich die erste Seite umblättern konnte, drückte sich etwas an mein Bein, und vor Schreck hätte ich beinahe die Tasse umgestoßen.
Unter dem Verandatisch saß ein mir unbekannter, zerzauster, schmutzig weißer Hund mit grauen Flecken. Ein nicht-schöner Hund. Er sah mich aus zwei irritierend verschiedenfarbigen Augen an, blau und braun. Bei Hunden kommt so was häufig vor, irgendwo habe ich das gelesen. Eins seiner Ohren war auf eine permanente Art geknickt und ein Stück eingerissen.
Ein Teil von mir wollte sich unter den Tisch knien und den Hund umarmen, weil ich David nicht umarmen konnte, weil David unumarmbar in einem seltsam hohen Intensivbett lag. Es wäre schön, dachte ich, etwas Lebendiges zu umarmen. Aber ich erinnerte mich daran, dass ich nicht der Typ Mensch war, der Hunde umarmte.
»Wo kommst du denn her?«, fragte ich.
Der Hund wedelte mit dem Schwanz, zögernd, langsam, als müsste er über die Antwort erst nachdenken. Ich ging noch einmal zurück in die Küche und holte eine Schüssel mit Wasser. Erst, als ich sie vor den Hund stellte, wurde mir klar, wie unsinnig das war. Es hatte den ganzen Vormittag lang geregnet, Wasser gab es im Garten genug. Doch der Hund trank, während er mir ab und zu einen Blick zuwarf. Als würde er aus Höflichkeit trinken.
»Du brauchst nicht zu denken, dass ich dir etwas zu fressen gebe«, sagte ich. »Es wäre dumm, einen fremden Hund anzufüttern. Geh zurück nach Hause. Geh. «
Der Hund sah mich wieder an, ging aber nicht. Stattdessen rollte er sich auf dem Boden zusammen und legte den Kopf auf die Pfoten. Ich goss Tee in meine Tasse und ließ meinen Blick durch den Garten wandern, auf der Suche nach verirrten Spaziergängern, die ihren Hund suchten. Es waren keine Spaziergänger da. Hinten am Schafszaun lehnte Lotta. Ich schickte ein atheistisches Stoßgebet zum Himmel, sie möge bloß nicht durch den Zaun schlüpfen und herkommen. Ich wollte nicht mit Lotta reden, nicht jetzt.
Lotta war sieben oder acht Jahre alt, sie wohnte ein paar Straßen weiter, in einem Haus, dessen grauer Putz abbröckelte und aus dessen Garten gewöhnlich zu laute Rap-Musik drang, wenn man versuchte, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Sie hatte fünf oder sechs ältere Geschwister, blaue Augen und hellblonde Locken ohne Haarschnitt.
Und sie war – ich glaube seit Anbeginn ihrer Existenz – verliebt in David.
Manchmal streunten die beiden zusammen draußen herum, aber sie hatte unser Haus noch nie betreten. Nicht, dass ich sie aktiv daran gehindert hatte. Ich hatte sie allerdings auch nie hereingebeten.
Lotta legte ihre Arme über die obere Holzlatte des Zauns, legte den Kopf darauf und sah mich an.
»David kommt heute nicht raus«, rief ich.
Lotta nickte und blieb, wo sie war.
»Er ist … krank!«, rief ich. »Geh nach Hause!«
Lotta nickte wieder, wich aber nicht. Ich seufzte. Ich würde mir einfach vorstellen, Lotta wäre nicht da, ich würde sie ausblenden, sie und den Hund und jeden Gedanken an irgendetwas anderes. Ich blätterte GEHEIM und WERKSTATT ZUR V.D.A.G. um und begann zu lesen.
Werkstattbericht – Eintrag 1–15. 10. 2011
Ich frage mich, wer dies liest.
Vielleicht irgendeine Komission, bei der ich das Projekt eingereicht habe, weil man das mit Projekten tut.
Mein Name ist David Berek. Ich bin neun Jahre alt und besuche die vierte Klasse der Montessorischule.
Dies ist der Bericht einer außerschulischen Werkstatt.
Falls Sie das nicht wissen: Werkstatt bedeutet nicht, dass es mit Nägeln und Schrauben zu tun hat. In der Schule machen wir dauernd Werkstätten: die Weltwerkstatt, die Wiesenwerkstatt, die Religionswerkstatt.
Wenn wir die Religionswerkstatt nicht angefangen hätten, hätte ich dieses Projekt vielleicht nie begonnen.
Auf der Welt gibt es eine Menge Religionen.
Falls Sie das nicht wissen: Es gibt zum Beispiel
Christentum
Judentum
Buddhismus
Hinduismus
Islam
Naturglauben (dafür weiß ich
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