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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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vernünftigen Worte: David hatte einen Unfall. Auf der A 20.
    Ich dachte wieder an das reglose, blasse Gesicht zwischen den Verbänden, die geschlossenen Augenlider, die drei Strähnen goldroten Haares.
    Und auf einmal packte die Müdigkeit mich, mir war schwindelig vor Müdigkeit. Ich ließ mich zur Seite sinken, rollte mich auf Davids Bett zusammen und zog die Decke über mich. Dann schloss ich die Augen. Alles, was ich wollte, war, einen Moment lang nicht zu denken.
    Beim Yoga denken die Leute an nichts. Wie machen sie das nur? Ich dachte der Reihe nach folgende Gedanken nicht:
    Neunjährige Jungen werden entführt. Es kommt vor. Immer wieder.
    Kinder steigen zu fremden Leuten ins Auto. Auch, wenn man ihnen tausendmal sagt, sie sollen es nicht tun. Kinder, die nicht zu fremden Leuten ins Auto steigen, steigen vielleicht zu nicht-fremden Leuten ins Auto, zu bekannten Leuten.
    David war ein ungewöhnliches Kind. Ungewöhnliche Kinder steigen vielleicht wieder aus Autos aus, wenn sie eine Chance dazu sehen. Vielleicht an der Autobahn. Warum sollte jemand an der Autobahn anhalten, drei Kilometer nach der Ausfahrt Rostock Süd?
    Neunjährige Jungen laufen von zu Hause weg. Neunjährige Jungen, deren Eltern auf die eine oder andere Art versagt haben …
    Es war sehr anstrengend, all diese Gedanken nicht zu denken. Schließlich dachte ich nicht: Ich liege auf etwas Unbequemem. Etwas Hartem. Und dann gab ich auf, nicht zu denken.
    Ich setzte mich auf und schlug die Decke zurück. Da war nichts.
    Ich stand langsam vom Bett auf und griff unter das hellblaue Laken. Unter die Matratze. Und da war es, das Harte, Unbequeme, gut versteckt, und mir wurde auf einmal heiß vor Aufregung. Als wäre ich selbst ein Kind, ein Kind auf Schatzsuche. Ich fischte das Harte heraus und starrte es einen Moment lang verständnislos an: ein brauner Lederordner mit einem ihn umgebenden leicht angerosteten Reißverschluss. Ich kannte das Ding, ich hatte früher meine Schulzeugnisse darin abgeheftet. David musste die Mappe irgendwo gefunden haben, genau wie Claas’ alte Schreibmaschine. Unser Kind, dachte ich, lebt von den Relikten unserer Vergangenheit. Andere Kinder leben in Welten aus Computerspielen und Internetseiten, aber David war auf seltsame Weise rückwärts orientiert. Lag es daran, dass er ungern tat, was alle taten? Aber das stimmte nicht, er spielte Fußball, er hatte Freunde; er war nie das typische Ich-bin-zu-intelligent-Außenseiter-Kind gewesen.
    Ich sah von der alten Ledermappe zu der klobigen schwarzen Schreibmaschine und zurück und schüttelte den Kopf. Ich war zu müde, um irgendetwas zu begreifen. Ich zog den Reißverschluss der alten Mappe auf … Tu es nicht, sagte eine Stimme in meinem Kopf. Er hat diese Mappe versteckt; er wollte nicht, dass jemand sie findet.
    Ich weiß, antwortete ich der Stimme und öffnete den Reißverschluss ganz. Die Metallklammer darin hielt einen dicken Stapel sorgfältig abgehefteter Blätter. Auf dem ersten Blatt stand nur ein einziges Wort:
    GEHEIM
    Und da begriff ich plötzlich, weshalb David nie einen unserer Computer benutzt hatte, sondern lieber die alte Maschine. Warum er die moderne Technik einfach ignoriert hatte. Moderne Technik hinterlässt Spuren. Wir hätten die gespeicherten Dokumente finden können, Claas oder ich, auch nach dem Löschen, im Papierkorb auf dem Desktop. Eine alte Schreibmaschine speichert nichts; eine Ledermappe ist nur dem zugänglich, der ihr Versteck kennt. Die Stimme in meinem Kopf schrie: Nicht umblättern!
    Ich blätterte um.
    Hinter der Seite mit GEHEIM gab es eine zweite Seite, auf der beinahe nichts stand.
    DAVID BEREK, las ich. WERKSTATT ZUR V.D.A.G.
    SAMMLUNG DER PROJEKT-BERICHTE,
    CHRONOMETRISCH GEORDNET.
    »Chronometrisch geordnet«, flüsterte ich und hörte mich leise lachen. Dann merkte ich, dass es weniger wie ein Lachen klang als wie ein Schluchzen. In diesem Moment liebte ich David so sehr, dass es unendlich weh tat, und ich dachte wieder, dass ich ihn verloren hatte, und das tat noch viel mehr weh.
    Ich schloss die Ledermappe und drückte sie einen Moment lang an meine Brust. »David«, flüsterte ich. »Verzeih mir, wenn ich das lese. Ich denke, ich muss es lesen. Um dich zu verstehen. Ich habe aufgehört, dich zu verstehen … ich weiß gar nicht, wann …«
    Ich ging mit der Mappe hinunter in die Küche, setzte eine Kanne schwarzen Tee auf und sah durch die Verandatür in den Garten. Es regnete nicht mehr. Dicke Tropfen hingen am

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