Paradies
geistig behinderten Sohn zehn Jahre lang ganztags betreut und von Sozialhilfe gelebt.
Die Gemeindeverwaltung hat ihr im Oktober den Zivildienstleistenden für ihren Sohn gestrichen. Seitdem hat sie das Kind allein versorgt, rund um die Uhr. Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. So etwas erfüllt mich mit ohnmächtiger Verzweiflung.«
Der Dezernent strich sich über die Augen. Thomas erkannte mit leichtem Erstaunen, dass die Erregung des Mannes tief und echt war.
»Das dürfte aber gegen die Kommunalgesetzgebung verstoßen«, meinte Thomas, »gegen einen solchen Beschluss lässt sich sicher Einspruch erheben.«
»Das habe ich ihr auch zu erklären versucht«, erwiderte der Dezernent, »aber die Frau hat nicht einmal mehr die Kraft, sich anzuziehen. Ihr aus den Kommunalgesetzen vorzulesen und die Verfahrensweise bei einem Einspruch zu erklären wäre zynisch gewesen. Ich habe stattdessen den sozialen Notdienst in Motala angerufen und ihnen von dem Gespräch berichtet. Sie wollen sich um die Frau kümmern.«
Thomas starrte auf den Bericht auf seinem Schoß, verdammt, ging es manchen Leuten schlecht.
»Wir müssen das vorhandene Wissen und die vorhandenen Mittel besser koordinieren«, sagte der Dezernent. »Und damit wären wir bei Ihrem Auftrag. Die Menschen, die Sozialhilfe beantragen, werden sehr unterschiedlich behandelt, abhängig davon, wo sie wohnen, wie die Arbeit organisiert ist und welchen Sachbearbeitern sie begegnen. Was wir brauchen, sind klare Ric htlinien und eine gemeinsame Strategie für alle Städte und Gemeinden. Wir müssen eine Form für die regelmäßige Diskussion von Anliegen entwickeln, die Möglichkeiten zum persönlichen Gespräch verbessern. Außerdem brauchen wir offensichtlich Controlling, Strukturen für eine interne Kontrolle der Bearbeitung einzelner Fälle, eine intern wie extern gut entwickelte Zusammenarbeit und eine verdammt sorgfältige Dokumentation der Abläufe.«
Der Dezernent seufzte und lächelte schwach.
»Sind Sie unser Mann?«
Thomas lächelte zurück.
»Absolut«, antwortete er.
Annika stieg aus der Dusche. Ihr Körper war matt nach dem Joggen. Sie hatte ganz vergessen, wie sehr sie das Laufen liebte, wie befreiend es war, den Körper über den Asphalt fliegen zu lassen.
In Bademantel und Gummistiefeln trottete sie über den Hinterhof und die Treppen hinauf.
Sie nahm ein üppiges Frühstück zu sich, kochte Kaffee und setzte sich mit den Zeitungen ins Wohnzimmer.
Als sie die Titelseite des
Abendblatts
sah, wurde ihr schwindlig, verdammt, Rebecka Björkstig ist verhaftet worden, man hat sie tatsächlich geschnappt.
Das
Paradies
war nicht länger die wichtigste Schlagzeile auf der Titelseite, aber über dem Zeitungskopf fand sich ein kleiner Hinweis auf den Innenteil. Mit zitternden Fingern gelang es Annika, die Seiten sechs und sieben aufzuschlagen. Rebecka Björkstig, immer noch anonym, der Kopf durch Balken ersetzt, wurde von drei Polizisten abgeführt.
Annika starrte das Bild an, konzentrierte sich auf die Details. Rebecka Björkstigs helle Kleidung, ihre zierlichen Stiefel, die wildwüchsigen Bäume im Hintergrund, das musste das Haus in Olovslund sein. Sie holte sich noch eine Tasse Kaffee, setzte das Telefon auf ihren Schoß, zögerte, wählte dann aber die Durchwahl im Polizeipräsidium.
»Nein, sieh einer an«, sagte Q, »long time no see.«
Annika lächelte in den Hörer hinein.
»Hatten Sie schon Gelegenheit, meine Freundin Rebecka Björkstig zu treffen?«
»Rebecka liebt Sie«, antwortete der Polizist. »Sie verstehen es wirklich, sich gute Freunde zu machen.«
Annikas Lächeln verschwand.
»Was meinen Sie damit?«
»Wenn das, was Sie in der Zeitung schreiben, stimmt, sollten Sie vielleicht vorsichtig sein«, erwiderte er. »Sie sind immerhin die Einzige, die etwas über Rebecka Björkstigs Stiftung an die Öffentlichkeit gebracht hat.«
»Ich dachte, sie wäre im Moment eher mit anderen Dingen beschäftigt«, sagte Annika. »Zum Beispiel damit, sich mit Ihnen zu unterhalten.«
»Zum Beispiel«, meinte Q. »Was wollen Sie?«
»Ist sie schuldig?«
»Wessen schuldig? Schulden, Namenswechsel, Untreue gegenüber den Gemeinden? Ja, ohne jeden Zweifel, jedenfalls, soweit das strafbar ist. Anstiftung zum Mord? Da bin ich mir nicht so sicher wie Sie.«
»Wissen Sie, ob ihre Stiftung überhaupt jemals funktioniert hat?«
»Ja, in einem einzigen Fall: Es ist ihr gelungen, sich selber zu löschen. Sie ist nicht dumm, die Frage ist nur, ob
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