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Paradies

Paradies

Titel: Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Marklund
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und hauste in schäbigen Motelzimmern. Niemand durfte wissen, wo sie sich befanden.
    Man wies sie an, niemals das Zimmer zu verlassen. Nicht einmal Mias Eltern wussten, ob die Familie noch am Leben war. Vor kurzem hatte das Oberverwaltungsgericht entschieden, dass die Familie auf absehbare Zeit in Schweden kein normales Leben würde führen können. Sie mussten emigrieren, die Frage war nur, wohin.
    Rebecka Björkstig hatte behauptet, eine Lösung für dieses Problem zu haben, aber bei ihr war die Familie vom Regen in die Traufe geraten.
    Annika legte die Zeitung in den Schoß.
    Die Lebensbedingungen der Menschen waren so grässlich, so widerlich. Warum wurden junge Mädchen im Krieg verletzt und mussten durch ganz Europa fliehen? Warum sind wir unserer Verantwortung nicht gerecht geworden? Warum haben wir die Menschen, die wir geliebt haben, sterben lassen? Warum durfte es Mia nicht gut gehen? Warum durfte sie kein normales Leben führen wie alle anderen auch, mit Mann und Kindern und Arbeit und dem Abholen der Kinder vom Kindergarten?
    Sie stand auf, holte sich ein Glas Wasser und ließ sich mit dem Artikel auf dem Schoß wieder auf die Couch fallen.
    Die Probleme der Menschen, dachte sie, sollten sich auf die Frage beschränken, welche Weihnachtsdekoration man in der Adventszeit in die Fenster hängt oder ob man seine Großmutter freitags oder samstags besuchen soll oder ob man versuchen soll, im Job weiterzukommen, ob man lieber eine Wohnung mieten oder ein Haus kaufen soll. Mia wünschte sich diese Art von Problemen, aber sie waren ihr nicht vergönnt.
    Sie starrte den Artikel an, ihre eigenen Formulierungen, ihre Schlussfolgerungen.
    Das Recht auf einen Mann und Kinder und Arbeit und ein normales Leben.
    Nicht nur für Mia und Aida, sondern auch für sie selbst.
    Sie schnappte nach Luft, als die Erkenntnis sie wie ein Schlag in den Bauch traf. Sie starrte die Tasse mit den Tabletten und die Schnapsflasche an und blieb vollkommen regungslos sitzen, während sich die Einsicht in ihrem ganzen Körper verbreitete.
    Sie selbst entsagte, sie selbst wollte verzichten, wollte aufgeben, abspringen, bevor es zu Ende war, und die Welt weitermachen lassen, ohne zu erfahren, was noch passieren würde.
    Sie hörte die Stimme ihrer Mutter:
    Du bringst niemals etwas zu Ende. Immer versagst du. Du bist feige und faul und anstrengend!
    Annika legte die Hand an ihre Wange. Die Ohrfeige der Mutter brannte heute, zwanzig Jahre später, immer noch.
    Nein, Mama, dachte sie, du hattest Unrecht, so war es nicht. Ich wollte schon gern Dinge zu Ende bringen, aber ich dachte nicht so weit voraus und kam auf immer neue Ideen, und dann wurdest du wütend und fandest mich schlampig. Birgitta war niemals schlampig.
    Regungslos saß sie auf der Couch. Seit Jahrzehnten hatte sie nicht mehr an ihre frühe Kindheit gedacht, warum dann jetzt?
    Wenn du wolltest, dass wir einen Vogel zeichnen, dann zeichnete Birgitta einen Vogel, ich aber zeichnete einen ganzen Wald voller Vögel und anderer Tiere, und du wurdest wütend, ich machte es falsch, tat nie, was du mir sagtest.
    Weitere Szenen tauchten vor ihrem inneren Auge auf, der Zorn der Mutter auf ihren Skitouren, die Badeurlaube, der Samstagsputz. Ihre Mutter fand immer einen Grund, sie anzuschreien.
    Wenn Annika sich beim Putzen beeilte, machte sie es nicht ordentlich genug, wenn sie sorgfältig war, trödelte sie, wenn sie bei den Anstiegen mit den Skiern wegrutschte, versaute sie ihnen die Skitour, wenn sie schnell lief, machte sie sich aus dem Staub, wenn sie ihr Tempo dem der anderen anpasste, war sie im Weg.
    Ich konnte es ihr nie recht machen, dachte Annika, verblüfft über diesen Gedanken, der ihr einfach so zugeflogen war.
    Aber das war nicht mein Fehler.
    Der Gedanke traf sie körperlich, ließ ihre Fingerspitzen kribbeln.
    Die Wutanfälle hatten nichts mit ihr zu tun, sie waren das Problem ihrer Mutter. Die Mutter ertrug ihr eigenes Leben nicht, und Annika musste dafür bezahlen.
    Annika starrte mit halb offenem Mund vor sich hin. Ein Vorhang war vor ihr zur Seite gezogen worden, und eine Landschaft, von der sie nichts geahnt hatte, breitete sich vor ihren Augen aus. Sie sah Ursache und Wirkung, Konsequenzen und Zusammenhänge.
    Ihre Mutter hatte einfach nicht die Kraft, sie zu lieben. Das war traurig und schmerzhaft, aber nichts, woran sie etwas ändern konnte. Ihre Mutter hatte getan, was sie konnte, war damit aber nicht sehr weit gekommen. Blieb die Frage, wie lange sich Annika

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