Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
Vom Netzwerk:
und das Knistern der Glut hörte man in der Stille deutlich. Mária Szapáry konnte den Rauch dieser Zigarette nicht ausstehen, trotzdem stellte sie den beiden Neurotikerinnen jeden Abend zuvorkommend den Aschenbecher auf den Teewagen. Als sie darauf blickte, bemerkte sie überrascht, dass ein Tellerchen vom Urbino-Geschirr doch übrig geblieben war. Wenn sie die beiden hierhaben wollte, musste sie gewisse Dinge in Kauf nehmen.
    Endlich tauchte auch Dobrovan wieder auf, mit dem Seidenkleid raschelnd, aber auch sie sagte nichts mehr. Sie hielt Mária den feuchten Waschhandschuh hin, damit sie sich ihre klebrigen Finger abwischen konnte. Dann tupfte sie überraschend und unbegründet heftig die opalschimmernde Kamee vom Filz. Und raschelte damit seiden und eilends wieder hinaus. Sie bewegte sich, als hätte sie etwas Wertvolles in der Hand. Aus der Distanz mehrerer Jahrzehnte hörte sie wieder deutlich einen Ruf. Die anderen Frauen starrten ihr nach. Plötzlich trug sie eine glänzende, pflaumenblaue, kniefreie Seide mit Schulterträgern. Sie trat mit der Außenkante der Füße auf, stellte sich auf die Spitzen, eilte dann mit raschen, gestreckten Schritten vorwärts, geblendet vom Rampenlicht.
Pas de bourrée
mit Fußwechsel
en dehors
und
en dedans
. Die aneinandergeschmiegten Unterarme hielt sie steif vorgestreckt und trug auf den Handflächen den blauen Vogel des Glücks. Er flog auf. Und ließ sie allein auf Erden zurück, doch mit dem Schwung seines Auffliegens hatte er ihre Füße auf die Spitzen gehoben. Mit ihm fliegen, oh, wie schön wäre das. Sie starrte auf ihre leeren Hände,
en désespoir.
Sie verstand nicht, warum ihr jener Ausruf so deutlich in den Sinn kam,
et c’est fini.
    Knappe einundzwanzig war sie gewesen, als bei einer Probe für ihre erste größere Rolle ein Träger auf sie herunterfiel.
    Da gerade war ein Mann an ihrer Seite gewesen, von dem ihre Familie natürlich nichts wissen durfte, der sie pflegte, sie wieder laufen lehrte, den sie aber bis zu dem Unfall nie ganz ernst genommen, oder besser, nie ganz an sich herangelassen hatte. Sie hatte gedacht, er wäre einer von denen, die beim Theater herumhängen, ein verschupfter Hungerleider mit hübschem Gesicht, der sich ihr angeschlossen hatte, zufällig ihr, es hätte auch jemand anders sein können, sie hingegen akzeptierte gnädig seine Dienste, auch wenn sie nichts von ihm hielt. Abends oder während längerer Probepausen oder an endlosen Frühlingssonntagen wäre es entsetzlich öd gewesen, in der Riesenstadt allein zu sein.
    Überhaupt fraß die Einsamkeit an ihrer Biegsamkeit und Glätte.
    Aber sie konnte diesen traurigen jungen Mann schon deshalb nicht beachten, weil sie hysterisch aufpassen musste, nicht schwanger zu werden.
    Weder von ihm noch sonst von jemandem.
    Um Gottes willen nicht schwanger werden, und schon gar nicht von diesem Typ. Soll er sehen, wie er sich befriedigt, soll er irgendwohin spritzen, wohin es ihm beliebt.
    Meistens landete die Pfütze auf ihrem Bauch, oder ein Strahl erreichte in langen Spritzern ihren Hals, ihr Gesicht, ihr Haar, auch das war egal.
    Ein fragiler, kränklich blasser, höchst verletzlicher Bursche, dem das wellig gekringelte Haar fortwährend in die glänzende, große bleiche Stirn fiel. Einen so armen Menschen hatte sie noch nie aus der Nähe gesehen, und befremdet hörte sie sich seine Geschichten an, wofür sie sich allerdings schämte, Arme sind ja auch Menschen. Seine Armut bedeutete vielleicht auch, dass er allerlei Geschlechtskrankheiten hatte. Die Vorstellung, sich anzustecken, war ihr unheimlich, sie beobachtete sich, streckte vor dem Spiegel die Zunge heraus, untersuchte mit Hilfe eines zweiten Spiegels ihre Mundhöhle, guckte sich in den Rachen hinunter, ob da nicht die fatalen Bläschen erschienen waren. Er sei vielleicht Litauer, oder vielleicht ein halber Pole oder auch Russe, er wusste es nicht. Er war mit sechzehn aus einem Warschauer Waisenhaus geflohen, und außer seiner Großmutter, die ihn bis zum Alter von zehn Jahren erzogen hatte, kannte er niemanden.
    Sie mochte höchstens seinen Mund, aus ästhetischen Gründen, aber küssen sollte er sie doch lieber nicht.
    Sie hatte ständig Angst vor Infektionen, sogar vor Schnupfen, vor allen den Dingen, die sie außer Gefecht setzen konnten. Auch seine Augen mochte sie bis zu einem gewissen Grad, den etwas absichtlich verschleierten, in die Deckung der Wimpern zurückgezogenen, tief melancholischen Blick, und die unerwartet heftige

Weitere Kostenlose Bücher