Parallelgeschichten
geben müssen, was hier los war.
Er saß auf dem einzigen Stuhl des Zimmers und vergaß das Mittagessen. Es wird dann schon noch auftauchen, redete er sich ein. Der hauchleichte Durchzug bewegte die Luft fast gar nicht. Das hat doch nicht der Wind mitgenommen, das alte, ausgebleichte Hemd, das hat doch nicht die Erde verschluckt. Zu mehr Rechenschaft reichte es bei ihm nicht. Beklemmung und Angst, wie sie ihn mit ihrem Fieber hätten schwächen können, meldeten sich gerade nicht. Er war ja nicht mit einer imaginären Gefahr konfrontiert, sondern das Schicksal hatte heute die ersten handgreiflichen Zeichen gesandt. Jetzt zweifelte er nicht mehr, dass die Aprikosen auch in der Nacht gefallen waren, dass es kein Traum gewesen war. Auch bestand kein Zweifel, dass er sein Hemd heute über denselben sonnenhellen Ast gebreitet hatte wie immer. Angesichts dieser unheilverkündenden Zeichen verließ er sich lieber auf sein ruhiges Naturell, da er ja genau zu wissen meinte, was es geschlagen hatte.
Das Erscheinen des Pastors am Abend hatte zur aufklarenden Weltordnung gehört.
An seinem Lebensende war er allein geblieben, er hatte niemanden, konnte auch niemanden mehr haben. Alle standen in ihrem Leben anderswo. Als er am Vorabend mit seinem Körper ins Wasser getaucht war, hatten alle Illusionen und Schmerzen ein Ende gefunden. Für ihn hatte das Leben keine individuelle, sondern nur geschichtliche Bedingungen, mystische oder metaphysische Zusammenhänge kamen ihm nicht in den Sinn. Das war eine Sache der Frauen oder der Priester. Er hatte gedient, wem er gedient hatte, war in den Ruhestand getreten und so allein geblieben, wie er sein ganzes Leben lang allein gewesen war. Er und der Pastor hatten nichts miteinander gemein, und überhaupt verachtete er die Pfaffen. Niemand hatte mit jemandem etwas gemein. Er war froh, dass er sich auch keine Geliebte mehr wünschte.
So wie er am Anfang seines Lebens gedacht hatte, alle Frauen gingen ihn etwas an, eine jede, jederzeit.
Höchstens musste er sich daran gewöhnen, dass ihn die Geister aus seinem früheren Leben immer noch hänselten.
Noch immer vertraute er seiner unerschütterlichen Stärke. Sein ganzes Leben lang hatte er die Männer verachtet, die nicht mit beträchtlichen Körperkräften gesegnet sind. Mit solchen wusste er nichts anzufangen.
Erinnerungen wurden durch Vorstellungen ersetzt, aus den Vorstellungen traten Erscheinungen heraus, die vor Gefahr warnten. Sie gehörten zu den unerklärlichen Dingen, mit denen sich ein Mann nicht abgibt. Seine tote Mutter hielt das eine Ende der aus den Zeichen gefügten Kette in der Hand, am anderen Ende saß er selbst mit zufriedener Seelenruhe und mächtigen, entspannten Gliedern. Das am Vorabend geführte Gespräch mit dem Pastor hatte ihn höchstens darauf aufmerksam gemacht, dass jedermann jederzeit bei seinem Haus auftauchen und Rache üben konnte. Der herumlungernde Strolch konnte niemand anders sein als sein Sohn. So wie seine Mutter ihm das kleine Mädchen mit dem Essen schickte, weil sie die Frau nicht wollte, die für ihn gern gekocht und gewaschen hätte.
Die in der stummen Stille plötzlich ertönende Glocke beglaubigte diese geheimen Zusammenhänge.
Das teuflisch Unerwartete daran ließ seinen Körper doch zusammenzucken, seine Muskeln zogen sich sozusagen ein, so wie am Vorabend, als er unter dem Aprikosenbaum den reglosen Schatten des Pastors erblickt hatte.
Jetzt mochte es schon zwei Uhr sein.
Für so etwas schämte er sich, er war ja kein zerbrechliches Fräulein.
Im Dorf wurde die kleine Glocke geläutet. Das Läuten gab allen zur Kenntnis, dass jemand aus den Reihen der Lebenden weggegangen war.
Es hatte ihm allerdings schon als Kind nicht in den Kopf gewollt, warum diese Priester nicht gleich die Glocken läuteten, sobald sie von einem Tod erfuhren, oder ihn sogar, wenn sie doch neben dem Bett standen, mit eigenen Augen sahen.
Immer warteten sie die volle Stunde ab.
Beim Erklingen des Seelenglöckleins stand er auf und musste vor Glück lachen.
Auch wenn er nicht hätte sagen können, warum er glücklich war oder weswegen er lachte.
Jetzt war er nicht mehr frei, aber niemand ging ihn etwas an, auch der Tote nicht. Leben und Sterben fremder Menschen bedeuten nichts. Höchstens wegen der anderen hatte er früher getan, als berühre ihn das. Jetzt blieb er auf der Schwelle seines Hauses stehen und beobachtete aufgewühlt die Landschaft. Aufgewühlt war er, weil es nichts mehr zu tun gab, für
Weitere Kostenlose Bücher