Pendelverkehr: Ein Eifel-Krimi (German Edition)
Vorspeise
Schneifel-Stipp
Kalte Kalbsleberstreifen in Birnen-Gorgonzolasoße mit gerösteten
Pinienkernen und altem Balsamico
Mich kann nichts mehr erschüttern. Verrat, Lug, Betrug,
übelste Verbrechen, ja, sogar Morde habe ich hautnah erlebt und mit knapper Not
überlebt. Aber jetzt ist in meinem Leben und meiner Umgebung endlich Ruhe
eingekehrt. Ich habe meine Wunden geleckt, meine Seele geheilt und bin auf
seltsame Weise in der Heimat meiner Vorfahren angekommen.
Hier im Grenzort Kehr, diesem abgelegenen Flecken der Schnee-Eifel,
genannt die Schneifel, werde ich in wenigen Wochen die Einkehr eröffnen, ein Restaurant, in dem ich anderen Menschen jene Gerichte vorsetzen
möchte, die mir selbst schmecken. Vor mir liegt ein fast leeres Blatt. Die
erste Vorspeise ist bereits notiert.
Natürlich sieht man mir die Freude am Essen an. Dünne Köchinnen
lassen ebenso wie stumpfe Messer an der Qualität der Zubereitung zweifeln.
Gudrun ist dünn, aber die lasse ich ja auch nicht an den Herd. Mit
ihrem Organisationstalent und einem gewissen herben Charme wird sie im Gastraum
beweisen, dass sie mehr als nur Kühe melken und Kälbchen auf die Welt bringen
kann. Sehr praktisch, dass sie jetzt im Restaurant selbst wohnt; ihr früherer
Hof wurde einem Künstler aus Texas übereignet, der sich hier allerdings noch
nicht hat blicken lassen.
Ihres sehr unregelmäßigen Temperamentes wegen überlasse ich das
Begrüßen der Gäste lieber Hein. Der ehemalige Eventmanager verliert sein
sonniges Gemüt nur dann, wenn es um Vater und Mutter geht. Über die wir aus
gutem Grund nie sprechen, obwohl ich mein Restaurant in seinem ehemaligen
Elternhaus eröffnen werde. Manchmal frage ich mich allerdings, was es in ihm
auslösen wird, ausgerechnet im künftigen Raucherzimmer, dem früheren
Schlafzimmer seiner Eltern, rauchenden Gästen marinierte Putenbrust in
Orangen-Senf-Soße mit Bärlauchschaum zu servieren. Falls die von ihrer Sucht Desensibilisierten
das überhaupt zu schätzen wissen.
Heute erinnert nichts mehr an die Kammer, in der Hein gezeugt wurde;
dafür hat mit ingeniösem handwerklichen Geschick sein Lebensgefährte Jupp
gesorgt. Dieser Schrank von einem Kerl darf sein Faible für selbst geklöppelte
Spitzendeckchen und Trockenblumen in meinem Restaurant allerdings nicht
ausleben. Aber er wird zur Stelle sein, wenn der Herd streikt, es reinregnet
oder das Klo verstopft ist. Auf ihn ist immer Verlass, außer wenn es seiner
uralten, in ihrer Demenz gelegentlich sehr hellsichtigen Mutter Agnes schlecht
geht, die er mit Hein im gemeinsamen Losheimer Domizil pflegt.
Und dann ist da noch Marcel.
Der Zausel aus Belgien. Polizeiinspektor in Sankt Vith und in seiner
Freizeit mein … tja, was ist er denn? Freund schon, aber doch eigentlich nicht
so richtig. Nach den schrecklichen Geschehnissen des vergangenen Jahres ist
etwas zwischen uns passiert: Er hat mich quasi genötigt, ihm das Du anzubieten.
Dann hat er mich geküsst. Irgendwie peinlich in meinem Alter. Schließlich werde
ich zur Eröffnung der Einkehr schon fünfzig.
Jedenfalls gab es nach dem Kuss nur zwei Möglichkeiten: ihn in das
Anderthalbpersonenbett einzuladen, das ich, wie auch mein völlig vergammeltes
finsteres Haus und meinen unerzogenen Hund Linus, voriges Jahr geerbt habe,
oder ihn rauszuwerfen. Nach heftigem Ringen mit heimtückischen Hormonen habe
ich mich als vernünftige Matrone für Letzteres entschieden. Meine neue Zukunft
soll von keinem Mann geprägt werden. Mit Schaudern denke ich an mein früheres
Leben als Berliner Moderedakteurin zurück. Da hatte ich einem Mann, einem verheirateten
zudem, die Entscheidungsfreiheit über mein Privatleben eingeräumt. Vierzehn
quälende Jahre lang.
Die Botschaft dieses einmaligen Kusses von Marcel Langer anzunehmen
hätte bedeutet, mich wieder Gefühlen auszuliefern, die unkontrollierbar sind.
Um uns herum geschieht genügend Unkontrollierbares. Bestimmten Unwägbarkeiten,
die man schon im Vorfeld ausräumen kann, sollte man als künftige Geschäftsfrau,
die in der Eifel leben bleiben will, aus dem Weg gehen.
Am Tag nach dem Kuss bin ich also nach Berlin zurückgefahren, um
dort meinen Haushalt aufzulösen und Vorbereitungen für die Verlagerung meines
Lebensmittelpunktes in die Eifel zu treffen. Voller Vorfreude auf ein künftiges
beschauliches Landleben kehrte ich zwei Monate später in die Gegend zurück, die
ich jetzt mein Zuhause nenne.
Marcel tat erfreulicherweise so, als wäre der Kuss nie
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