Patentöchter
einzelnen Strecken gabelte und dann doch wieder verknüpfte, hat mir geholfen. Wir sind in die Innenräume der Tat und in unsere eigenen Innenräume gegangen, daher konnte ich am Ende auch von außen darauf schauen. Da das Erzählen auf den anderen gerichtet – und nicht monologisch – war, fiel eine Schwere von mir ab.
Man sieht nur, was man weiß, lautet ein berühmtes Goethezitat, das sich seit einiger Zeit auch ein Reiseführerverlag zu eigen macht. Durch unsere persönlichen Nahaufnahmen weiß ich nun mehr. Die alten Großaufnahmen wurden ergänzt und verändern sich.
Im Rückblick sehe ich in meiner Entwicklung einen Dreischritt: zunächst das jahrelange Wegschauen, wenn es um die politische Ebene und die eigenen Erinnerungen ging. Dann musste ich mich sehr mühsam auf den schweren Weg der Erinnerung machen. Schließlich erlebte ich überraschend fast so etwas wie eine Ablösung von der eigenen Geschichte. Ich konnte plötzlich darauf schauen wie auf die Geschichte einer anderen.
Unser Dialog gründet auf erlebter Biografie und auf Vertrauen; dieses Vertrauen trägt die Möglichkeit der Versöhnung in sich. Ansonsten – ohne glaubwürdige persönliche Stellungnahme der Exterroristen zu ihren Taten – bleibt der Begriff der Versöhnung nichtssagend für mich. Dieser Weg kann nur über Aufklärung und eine ehrliche Geschichtsschreibung gehen – nicht über Vergessen und verflochtene Schweigeabkommen. Wäre die Befreiung der Geiseln von Mogadischu nicht geglückt, oder wäre der Schulbus, der wenige Minuten vor dem Anschlag auf Karl-Heinz Beckurts die Straße entlangfuhr, getroffen worden – die Rezeptionsgeschichte der RAF wäre anders verlaufen.
Ich setze Hoffnungen auf eine neue Forscher- und Historikergeneration – und auf etwas so Handfestes wie den ePuzzler: eine vom Fraunhofer IPK entwickelte Software, die gescannte Papierfragmente aus der Hinterlassenschaft des MfS zu vollständigen Seiten zusammensetzt. Mit der Hand bräuchte man fünfhundert Jahre, um die in 15 000 Säcken verstauten zerrissenen Stasiakten zusammenzusetzen. Der ePuzzler braucht dagegen voraussichtlich nur zehn Jahre.
Das Thema Reue muss jeder Täter für sich selbst klären – ich habe den Begriff nie benutzt. Gleichwohl verstehe ich, wenn andere Opferangehörige ihn für ihre eigene Verarbeitung brauchen. Die Tat ist für mich zu monströs, um mich der Frage nach dem »Verzeihen« abstrakt auszusetzen. Eine zweite Chance gewähren – diesen Gedanken mag ich sehr. Nur, wo ist dann unsere zweite Chance, uns aus den klischeehaften Zuschreibungen der bisherigen RAF – Deutung zu befreien?
Für mich heilt Zeit viele Wunden. Es gibt aber auch Geschwüre, die nicht verheilen, vielmehr weiterwachsen. DasTerrorgeschwür ist für mich nicht verheilt. Gestern war der 22. November 2010: eine erste Terrorwarnung für Deutschland, verbunden mit einem konkreten Datum. Ich soll gelassen bleiben, rät die Politik.
Inzwischen wurden am Pariser Platz, wo wir uns vor mehr als zwei Jahren wiedergetroffen haben, zwanzig Jahre Mauerfall gefeiert. Ich beobachtete die eindrucksvolle Inszenierung, bei der man bunt gestaltete »Mauersegmente« wie Dominosteine umkippen ließ, und musste daran denken, dass der Fall der Mauer nicht nur die Wiedervereinigung einläutete, sondern auch die Offenlegung der Abgründe der damit überwundenen Geschichtsepoche möglich machte. Der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski hat gesagt: Eine Nation ohne Geschichte, sowohl die gute wie die böse, hört auf, ein Volk zu sein.
Das Schönste an der Veranstaltung war, dass man eine neue Generation sah. Die Kinder am Brandenburger Tor waren unbelastet fröhlich. In diesen Gesichtern lag ein selbstbewusster Glanz. So wuchs auch ich auf – in einem trotz der erlittenen Vorgeschichte von Krieg und Nationalsozialismus unbeschwerten Elternhaus, in einer hellen Kindheit, bis eine neue abgründige Ideologie in unser Wohnzimmer einbrach.
Das Faszinierende, das Tröstende und Aufregende für mich ist, dass die Kraft der Vertuschung und der Unwahrheit viel kurzatmiger ist als die Energie der Wahrheit. Die vielen perfekten Verbrechen – die nicht aufgeklärten Fälle –, die die Täter, die Hintermänner und Auftraggeber so lange als ihre Stärke empfunden haben, stehen nach geduldiger Metamorphose als Menetekel der Schwäche vor ihnen. Auf lange Sicht wollen die Menschen schwarze Löcher mit Wissen auffüllen. Und das ist eine der besten Erfahrungen der
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