Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
sein Blick ziellos umherirrte. »Ist er dort drin?«
Er zeigte mit einer fahrigen Bewegung auf die Villa.
Katinka nickte. »Die Bestatter werden jeden Augenblick eintreffen.«
»Kann ich ihn sehen?«, fragte Wiesinger.
»Ich würde es Ihnen nicht empfehlen«, sagte Katinka leise.
»Schon gut, schon gut.« Unruhig wandte sich Wiesinger seiner Frau zu. »Ermordet«, sagte er zu ihr. »Stell dir das bloß vor, Liebes. Ermordet – bei uns zu Hause!« Jetzt wandte er sich wieder an Katinka. »Es war ein Einbrecher, sagte die Polizei am Telefon. Ist das richtig? Wie konnte das passieren?«
Katinka deutete an, dass der oder die Einbrecher gut informiert gewesen sein mussten, da sie die Sicherungssysteme umgangen hatten. »Aber die Bluttat selbst war unseren Vermutungen nach kein Vorsatz. Ihr Vater hat den Täter wahrscheinlich auf frischer Tat ertappt.«
»Kein Vorsatz?« Wiesinger griff nach der Hand seiner Frau, die sie ihm aber augenblicklich wieder entzog. »Vorsatz hin, Vorsatz her – das macht meinen Vater nicht wieder lebendig.«
»Kommen Sie direkt aus München?«, bemühte sich Katinka, das Gespräch zurück auf eine sachliche Ebene zu führen.
Wiesinger nickte, und Paul bemerkte beim Blick durch den Sucher, dass das Gesicht des Mannes mit dem Image des ewigen Sunnyboys bei näherer Betrachtung von tiefen Falten durchzogen war. »Wir waren auf einer Vernissage«, knüpfte Wiesinger an. »Bei einer befreundeten Malerin. Wir waren zwar noch im Käfers, aber schon recht früh im Hotel.«
»Ja, so gegen ein Uhr«, meldete sich Doro Wiesinger erstmals zu Wort. Ihre Stimme war unerwartet tief und nach Pauls Empfinden durchaus exotisch. »Dort erreichte uns dann gegen Morgen der Anruf.«
Katinka blickte auf ihre Uhr. »Laut dem Chauffeur Ihres Vaters, Herrn Schönberger, hatten Sie Nürnberg am späten Nachmittag verlassen.«
»Ja«, bestätigte Andi Wiesinger. »Schönberger hatte den Wagen voll getankt, und gleich darauf sind wir losgefahren.«
»Der Totschlag wird vom Gerichtsmediziner nach ersten vorsichtigen Schätzungen auf die Nachtstunden zwischen Mitternacht und vier Uhr terminiert.«
»Wie Sie das sagen.« Doro Wiesinger bedachte Katinka mit einem feindseligen Blick. »Wir reden hier über einen Menschen, meinen Schwiegervater, und nicht über irgendein Kaninchen, das bei einem Laborversuch verendet ist.« Sie taxierte jetzt auch Paul voller Argwohn und zog ihr Kleid über dem Dekolleté zusammen, nachdem er seine Kamera abermals auf sie gerichtet hatte.
»Entschuldigen Sie«, sagte Katinka und geleitete die Wiesingers in Richtung der Eingangstür. »Wir sollten uns an einem ruhigen Ort ungestört weiter unterhalten.«
Dann machte sie Paul gegenüber eine Geste, als wollte sie einen lästig werdenden Hund vertreiben. »Du bleibst draußen«, zischte sie.
Großartig, dachte er voller Sarkasmus, als er Andi Wiesinger in seinem Tausend-Euro-Freizeitanzug und seine in Rot gewandete südamerikanische Schönheit gemeinsam mit Katinka in der Villa verschwinden sah. Doro Wiesinger hatte, so fiel Paul auf, als er sie von hinten sah, um die Hüften herum ein wenig zugelegt. Was mochte das wohl bedeuten?, fragte er sich. Kummerspeck, weil ihr Mann sie so oft betrog? Aber das würde sie kaum nötig haben, denn Doro Wiesinger war dem Vernehmen nach in dieser Hinsicht selbst nicht von schlechten Eltern. Und ihre Attraktivität stand außer Frage. Nein, nein, diese Dame war selbstbewusst genug, um sich genau die Figur zu leisten, die sie anstrebte und die zu ihr passte. Sie war ganz sicher nicht dem zweifelhaften Schönheitsideal abgemagerter Supermodels verhaftet.
Paul stand alleingelassen neben dem schwarzen Porsche der Wiesingers und begann in der knallenden Nachmittagssonne zu schwitzen. Das war es dann wohl, dachte er sich und trat den Rückzug an. Zuvor schoss er noch einige Bilder von dem Cabrio. Die ersten von vorn aus der Froschperspektive – das machte den Wagen imposanter beziehungsweise ließ ihn angeberischer wirken –, dann einige von der Seite. Schließlich richtete er sein Objektiv auf das Cockpit und die ledernen Sportsitze, auf denen noch das Gucci- Handtäschchen von Doro Wiesinger lag.
4
Paul radelte zurück und spürte plötzlich, dass er zwar seit Stunden unterwegs war, jede Menge erlebt hatte, aber in der ganzen Zeit keinen Bissen zu sich genommen hatte. Während er in die Pedale trat, überlegte er, ob er vor der Rückfahrt ins Burgviertel einen Schlenker über die
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