Pechstraehne
oder im nahen Waldsee, doch dafür hatte ihr Mut nicht gereicht.
Allerdings hielt das Schicksal einen weiteren Schlag für sie parat, denn als sie nach dieser endlos langen Nacht im Morgengrauen von der Toilette über den Hof gehen wollte, erkannte sie an der Haustür Helga, ihre ältere Schwester, die in Günters Armen lag, ihm einen innigen Abschiedskuss gab, und danach leise im Haus verschwand. Sechs Monate später heirateten die beiden, wobei sich Helgas kugelförmiger Bauch schon deutlich unter dem Brautkleid abzeichnete.
Günter und Martha hatten seitdem nie mehr über ihre Liebelei gesprochen, und manchmal hatte sie das Gefühl, dass all das, was sich in diesem Spätsommer 1954 zwischen ihnen beiden abgespielt hatte, ein Traum gewesen sein musste.
Kein Traum allerdings war, dass Martha Zacharias von diesem Tag an nie wieder etwas mit einem Mann angefangen hatte. Nicht während ihrer Zeit an der Universität, wo sie zur Lehrerin ausgebildet wurde, und auch danach nicht, obwohl es an Gelegenheiten nicht gemangelt hätte.
Sie schreckte so abrupt hoch, dass sich ein großer Schwall Wasser über den Badewannenrand hinweg auf den Boden ergoss. Intuitiv wollte Martha etwas dagegen unternehmen, doch dann begann sie zu lächeln. Mit einem schnellen Blick auf ihre Armbanduhr nahm sie wahr, dass die Einnahme der Schlaf- und Schmerzmittel mehr als 20 Minuten zurücklag.
Dann los, bringen wir es hinter uns , dachte sie merkwürdig entspannt, griff zu der Rasierklinge links von ihr und nahm sie in die rechte Hand.
Immer mit der Ader, nie quer, Martha!
Sie hatte das Gefühl, dass die Welt um sie herum in Watte gepackt war. Alles war ruhig, entschleunigt, und merkwürdig friedlich. Ein wenig fürchtete sie sich schon vor den Schmerzen, die vielleicht gleich kommen würden, aber sie wusste, dass die vorübergehen würden. Sie würden gemeinsam mit ihrem Leben verschwinden.
*
Der erste Schnitt fühlte sich merkwürdig an. Gerade so, als ob Papier gerissen würde. Sie hatte nur leichte Schmerzen, und als das Blut warm über ihre linke Hand zu rinnen begann, schloss sie für ein paar Sekunden die Augen.
Ich werde sterben , dachte sie, und trotz der Medikamente in ihrem Körper hatte der Gedanke etwas Aufregendes.
Meine Güte, was hätten wir für ein schönes Leben haben können, Günter.
Die Rasierklinge wanderte mit geschlossenen Augen in die andere Hand, wo sie die Prozedur wiederholte. Ab der Mitte des Armes hatte Martha stärkere Schmerzen, und als sie mit der Klinge an der Handwurzel angekommen war, schrie sie leise auf und öffnete unwillkürlich die Finger.
Die meisten schneiden sich vermutlich ein paar Sehnen durch , schoss es ihr durch den Kopf.
Dann jedoch ließ sie beide Arme in das warme Wasser gleiten, was ein leichtes Brennen verursachte, das allerdings ein paar Augenblicke später wieder verschwand. Auch die Übelkeit, die sich kurz meldete, konnte sie einfach hinunterschlucken.
Es fühlt sich genauso an, wie ich es vermutet habe. Als ob gemeinsam mit dem Blut das Leben den Körper verlässt.
Martha Zacharias öffnete kurz die Augen, um sich zu vergewissern, dass sie noch bei Bewusstsein war, doch mittlerweile war sie einfach nur noch müde. Sie war müde und freute sich auf den Schlaf, der bald, sehr bald einsetzen würde. Ihr Blick fiel auf eine freie Stelle zwischen dem Badeschaum, und als sie das rot verfärbte Wasser sah, erschrak sie ein wenig.
Aber ja, so ist es nun einmal, wenn man sich in der Badewanne die Pulsadern aufschneidet.
Die Badezimmerdecke, die sie mit den Augen fixieren wollte, verschwamm zu einem surrealen Muster. Sie schluckte, schloss ein letztes Mal die Augen und holte dabei tief Luft. Während ihr Kopf langsam zur Seite fiel und sie bis zu den Schultern ins Wasser eintauchte, befand sie sich in einem Stadium zwischen wachen und schlafen, das allerdings nur kurz andauerte.
Das Letzte, was Martha Zacharias in ihrem Leben wahrnahm, war ein geträumtes Bild von Günter, wie er sie am ersten Schultag in der Oberstufe angestrahlt hatte. Dann sank sie weiter in die Badewanne, und ein paar Minuten später hörte ihr Herz auf zu schlagen.
2
»Das wurde nun auch wirklich Zeit«, meinte Maria vielsagend, als Thilo Hain seine frisch angetraute Ehefrau zum Hochzeitstanz aufs improvisierte Parkett vor der Grillhütte bat. Die knapp zweijährigen Zwillinge der beiden standen mit offenen Mündern daneben und verstanden, wie es den Anschein hatte, nichts von dem, was sich da gerade
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