Peetz, Monika
seinen
Etappen einklebte. Judith hatte vergessen, dass es das Buch gab. Jetzt erschien
es ihr als Arnes wichtigstes Vermächtnis. Versunken blätterte sie durch Arnes
Pilgertouren.
Judith
merkte nicht einmal, dass das Telefon klingelte, so aufrührend war die
Wiederbegegnung mit Arnes Gedanken. Seite für Seite streifte sie mit ihm über
den Jakobsweg, bis der Text abriss. Mitten im Satz. Nachdem bei ihm Krebs
diagnostiziert worden war, war Santiago de Compostela unerreichbar geworden.
Arne passte die Route an. Sein Ziel und seine Hoffnung hießen nur noch Lourdes,
das an einer Nebenstrecke des Jakobswegs lag. Das schwarze Notizbuch begleitete
ihn auch auf dieser letzten Tour, für die er Narbonne Plage als Ausgangsort
gewählt hatte. Vierhundertdreißig Kilometer bis Lourdes hatte er sich damals
vorgenommen, aufgeteilt in siebzehn Etappen. Das jungfräuliche Weiß der
letzten fünfzig Seiten und die tragische Realität dahinter trafen Judith wie
ein Blitzschlag. Arne hatte gehofft, an der Quelle der Bernadette Heilung zu
finden. Er hatte Lourdes nie erreicht. Völlig erschöpft hatte er die Tour
abgebrochen. Sechs Wochen später war er tot.
In den
Monaten nach Arnes Tod war Judith in einer Starre gefangen gewesen. An manchen
Tagen schaffte sie gerade mal das Notwendigste: Einatmen. Ausatmen. Einatmen.
Ausatmen. Jetzt stand ihr glasklar vor Augen, was zu tun war.
5
Caroline
machte sich Sorgen. Die Verhandlung war kaum zu Ende gegangen, da wählte sie
erneut Judiths Nummer. Den ganzen Nachmittag probierte sie schon, die Freundin
zu erreichen. Es war wieder mal der erste Dienstag im Monat, und Caroline
wollte sichergehen, dass Judith die Verabredung nicht vergaß. Judith durfte
auf keinen Fall fehlen, wenn es um den jährlichen Ausflug ging.
Eine
Anwaltskollegin gratulierte mit gestrecktem Daumen zum gewonnenen Prozess.
Caroline nahm es nur flüchtig zur Kenntnis. Sie hatte ein flaues Gefühl im
Magen. Sollte Judith nicht im Le Jardin auftauchen, würde sie umgehend in die
Blumenthaistraße fahren.
Laute
Schritte unterbrachen ihre düsteren Gedankengänge. Estelle behauptete immer,
man würde den Unterschied zwischen teuren und billigen Schuhen am Gehgeräusch
hören. Plastik quietschte. Das hier klang nach teurer Ledersohle:
Anwaltsschuhe. Tatsächlich versuchte der Vertreter der Gegenpartei, Paul
Gassner, krampfhaft, sie einzuholen. Und das, nachdem sie gerade seinen Tag und
seine gute Beziehung zu seinem Klienten ruiniert hatte. Nicht zum ersten Mal
übrigens. Gassner war nicht uncharmant, aber Caroline stand der Sinn nicht nach
kollegialer Nachbereitung der Verhandlung. Sie hatte es eilig, ins Le Jardin
zu kommen, und versuchte, ihn so schnell wie möglich abzuwimmeln: »Der Richter
hat sein Urteil gesprochen. Zu unseren Gunsten. Ich sehe nicht, was wir zu
besprechen haben.«
Der Anwalt
ließ sich nicht abschütteln. Im Gegenteil. Ohne jede Vorwarnung unterbreitete
er ihr ein Angebot. »Frau Seitz, wann tun Sie sich endlich mit mir zusammen?
Wir beide wären ein fabelhaftes Team!«
So wie
Gassner das sagte, klang es wie ein unmoralisches Angebot. Wollte er ein Date
mit ihr? Um Himmels willen. Sie war verheiratet. Gut verheiratet. »Wie Sie
wissen, bin ich in festen Händen. Beruflich und privat.« Das saß.
Der Anwalt
blieb unbeeindruckt. »Verehrte Caroline«, versuchte Gassner es weiter, »seien
wir ehrlich. Wir sind nicht mehr die Jüngsten. Wenn Sie beruflich noch einmal
durchstarten wollen, ist jetzt der richtige Zeitpunkt.«
Was für
eine bodenlose Frechheit! Aber Caroline ließ sich nichts anmerken. Die
Strafanwältin hatte in vielen Strafprozessen gelernt, aus ihrem Herzen eine
Mördergrube zu machen. Während sie innerlich bereits kochte, blieb sie äußerlich
gelassen: »Wer sagt Ihnen, dass ich mein Leben verändern will?«
»Die
Kinder aus dem Haus, Enkel nicht in Sicht. Ihr Mann hat seine Arztpraxis, die
Kongresse, seinen Sport, und Sie? Einmal im Monat das Treffen mit den
Freundinnen vom Französischkurs. Das kann doch nicht alles gewesen sein.«
Caroline
hielt abrupt inne. In ihrem Kopf ratterte es. Wie konnte ein Fremder diese
Dinge wissen? Worauf wollte er hinaus? Täuschte sie sich? Oder schwang da ein
Hauch Mitleid mit in Gassners Stimme? Für einen Moment vergaß Caroline sogar
ihre Sorge um Judith.
»Sie
nehmen mir doch nicht übel, dass ich Erkundigungen eingeholt habe. Man will
schließlich wissen, wen man in seine Kanzlei holt!«, erklärte Mr.
Ganzschöndreist mit
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